Radio Gaga

Ich bin in den kleinen Laden gegangen, um mir ein Hemd zu kaufen. Während ich die Auswahl an den Kleiderstangen durchblättere, läuft im Hintergrund unüberhörbar dass Radio. Zwei aufgekratzte Moderatoren spielen einen Titel kurz an und fragen: „Wer erkennt die Interpretin? Sofort anrufen unter …..holt euch die 500,- Euro!“ Ich will mich auf die Hemden konzentrieren, merke aber, wie mich diese Frage packt. Sie spielen den Titelfetzen noch mal. Ich kann es kaum glauben: das ist doch eindeutig Marianne Rosenberg mit „Er gehört zu mir“. (Wie der Schein zu mir, denke ich.) So leicht bin ich noch nie zu Geld gekommen. Ein Hörer ist auf Sendung und meint: „Mary Rose?“ Mann, ist der blöd. Der Moderator sagt: „Leider falsch. Aber jetzt alle zuhören – ich erhöhe auf 600.- Euro, heute Nachmittag auf eurem Konto, ruft an!“

Ich werde immer nervöser. Für 600.- Euro kann ich mir gleich jetzt ein Dutzend Hemden kaufen. Wahnsinn. Sie spielen den Titel noch mal an. Ich kann mich überhaupt nicht mehr konzentrieren, wühle fahrig in den Stoffen herum. „Ja, wer ist dran?“, fragt der Moderator. „Ich bin Lena aus Rostock. Den Titel singt…äh… Nicole?“ Nicole? Ja bist du denn völlig leer da oben, denke ich. Das tut ja schon weh. „Tut uns leid, Lena, leider nein“, bedauert der Moderator. Wieder spielen sie das Lied an und sagen: „Einem Anrufer geben wir noch eine Chance – ruft an!“ „Haben Sie die Nummer von Radio Brandenburg?“, schreie ich den Ladenbesitzer an. „Bitte? Worum geht´s?“, fragt er verdattert. „600,- Euro, Mann! 600.- Euro!“, brüllen ich ihn an und dann in Richtung Radio: „Marianne Rosenberg! Ma-ri-an-ne Ro-sen-berg!!“ Er schaut mich sonderbar an und fummelt an seinem Handy herum. Ich schreie: „ Marianne Roooosenberg! Mann! Das ist doch pipi-einfach! Marianne Rosenberg!!“, stürze nach draußen, klettere auf einen Tisch mit Sonderangeboten und wedele mit einem karierten Hemd herum. Es muss mich doch jemand von Radio Brandenburg sehen. „Marianne Rosenberg!! Er gehört zu mir! Rosenberg! Marianne!“, gröle ich wie von Sinnen. Als mich die Sanitäter fest fixiert in den Krankenwagen verbringen, höre ich noch aus der Ferne eine Hörerin „Helge Schneider?“ antworten. Danach falle ich vor Schmerz in Ohnmacht.

Lucky Shoot

Man kann machen was man will, oft sind spontane Fotos einfach die besten. Nicht lange vorbereiten, also schulmäßig ausleuchten, positionieren, vielleicht noch schminken, nein, einfach in der genialen Sekunde auf den Auslöser drücken, in der für einen winzigen Moment alles passt. Glück und Talent müssen da zusammenfinden und dann – Bingo! So ein Foto von mir bekam ich heute geschenkt und bin immer noch ganz geschmeichelt. Ich, so gegen Mittag, frontal in leichter Seitenansicht, bin beim Essen und Telefonieren, ganz gedankenverloren blicke ich in die Ferne. Charismatisch, mit einem leichten Hauch von Lächeln, das mir durchaus gut zu Gesicht steht. Grandioses Foto. Man will dafür 30,- Euro von mir haben, das ist für ein einfaches Schwarz-Weiß-Foto nicht billig, aber gute Sachen haben halt ihren Preis und ich unterstütze damit – unter dem Aktenzeichen 9876/46.167.68, Stichwort „Geschwindigkeitsüberschreitung – von Herzen gerne die klamme und Freie Hansestadt Hamburg. Sie muss wahrlich sehen, wo sie das Geld für ihre schweineteuren Kulturtempel herbekommt.

Glücksspiel

Ja, ich spiele. Nicht permanent, aber immer mal wieder, am liebsten Eurolotto. Umso voller der Jackpot ist, desto mehr setze ich ein. Und dann male ich mir aus, was ich alles mit dem vielen Geld machen würde, dabei stoße ich in meinem tiefsten Inneren auf einen großartigen Charakterzug, der sich erfreulich von meinen normalen, konfusen Wesenszügen unterscheidet: Ich stelle mir vor, wie ich die Millionen unter all meinen sich geplagten und geschundenen Freunden verteile. Mit dem Füllhorn in der Hand besuche ich sie und schon auf dem Weg dahin bekommt jeder Straßenmusiker oder Bettler eine volle Hand in seinen Hut geworfen. Auch Hagenbeck und Jens Spahn, die Bill Gates Stiftung und die verarmten Hohenzollern sollen nicht leer ausgehen. Ich verausgabe mich lustvoll. Ganz am Ende dann denke ich auch mal an mich, stoße die große Glastür einer Porsche-Verkaufsfiliale auf und setze mich in die teuerste Karre, die dort zum Verkauf steht. Diese Schweinerei gönne ich mir. (Sorry, Greta.)

Auch dem Verkäufer stopfe ich ein Bündel Geldscheine unters Hemd. Ich bin nicht mehr zu stoppen. Leben, jetzt. Corona hat uns gelehrt, wie bedroht es sein kann. So weit, so gut – immer vorausgesetzt, man tippt die richtigen Zahlen. Hört sich einfach an, ist es aber nicht. Bei der Wahl seiner Zahlen darf man nicht verkrampft sein, muss das richtige Verhältnis zwischen Bauch und Kopf finden. Persönliche Geheimzahlen oder Geburtstage der Lieben haben sich als Nieten entpuppt, auch Hausnummern, Steuersätze oder die eigene Genitallänge funktionieren nicht. Am besten, man kreuzt seinen Tippschein völlig gedankenlos an, frei von Wünschen und Träumen. desgleichen vor der Verkündung der Zahlen, niemals daran denken, dass man den Jackpot abräumen könnte – niemals! Genau diese Gedanken sind bekanntlich die verbindlichste Garantie für eine abgrundtiefe Enttäuschung.

Aber vor zwei Jahren bin ich mal in den Urlaub gefahren und hatte in der Aufregung völlig meinen aktiven Eurolottoschein vergessen, also weder an ihn, noch an ein Losglück gedacht. Null! Plötzlich erhielt ich am Strand einen Anruf meines Freundes, der in meiner Wohnung die Yukapalme goss und auf dem Tisch den Spielschein fand. Fürsorglich brachte er ihn zur Überprüfung in die Lottoannahmestelle. „Sitzt du?“, rief er aufgeregt in den Hörer, „Du hast fünf Richtige!“ Fünf von sieben Zahlen! Ich fiel fast in Ohnmacht. Ich? Fünf Richtige? Siehste, siehste, dachte ich, nur so funktioniert es. Bevor ich im Geiste anfangen konnte die Millionen zu verteilen, holte mein Freund mich auf den Boden: „Du bekommst 380.- Euro. Leider ist eine Zahl an der falschen Stelle, sonst hättest du 12.000,- Euro gewonnen.“ Pech im Glück, so ein Mist. Aber ich habe daraus gelernt, habe die parapsychologischen Gesetzmäßigkeiten verstanden. Seitdem denke ich vor der Abgleichung meiner Lottozahlen an alles, nur nicht an einen Gewinn, z.B. Sex in der Achterbahn, an die Erderwärmung, an ein Rezept für Königsberger Klopse oder mein erstes Fahrrad. Das ist leichter gesagt als getan, irgendwann in diesem Psychospiel schleicht sich heimlich aus einem raffinierten Versteck dann doch der Funke eines Gedankens hinein: Stell dir vor, du schnappst dir den Pott? Und bums – schon sind alle Chancen wie weggefegt. Nichts geht mehr. Ein qualvolles Spiel. Heute bin ich mit AC/DC auf den Kopfhörern und Karaoke singend in meine Lottoannahmestelle marschiert, um meinen Schein überprüfen zu lassen. Morgen soll ich auf Kaution freikommen.

Tapas Terror

Dieter war schon ein paar Mal auf Insel, hatte sie uns wärmstens empfohlen und alles organisiert. Nun saßen wir, fünf urlaubsfreudige Freunde, nach der Ankunft mit weißen Beinen und in halblangen Hosen in einem von Dieter gepriesenem Lokal und blätterten in der Speisenkarte. Nach strapaziösen Anreisen und spärlichem Fliegerfraß habe ich grundsätzlich Riesenhunger und verspüre den drängenden Wunsch, ihn zu stillen.

In meinem Bekanntenkreis eilt mir wegen dieser Neigung der Ruf eines „Fresssacks“ voraus. Was daran verwerflich ist, auf die Wünsche seines Körpers zu hören, kann ich mir nur damit erklären, dass heutzutage der Hunger in einer vom Schlankheitswahn besessenen Zeit als Feind diskreditiert wird und mit allen Mitteln, zumeist von der Pharmaindustrie, beseitigt oder zumindest gebändigt werden muss. Ich bin in einer elterlichen Welt aufgewachsen, in der satt werden das ersehnte Ziel einer hungergeplagten Nachkriegsgeneration war. „Bist du satt geworden?“ fragte mich meine Mutter nach jeder Mahlzeit ständig und wenn meine positiven Bestätigungen sie immer noch nicht zufriedenstellten, folgte ein resolutes: „Du bist doch noch nicht satt!“ Ich durfte erst aufstehen, wenn mir nachweislich schlecht war. Diese historische Komponente soll meinen folgenden Fall verständlicher machen und bei der Gelegenheit möchte ich auch noch grundsätzlich erklären, dass ich mein Brot mit jedem Armen und Hungernden teilen würde – nur nicht im Urlaub mit gutsituierten Freunden, welche sich mit dem Betreten der Insel zu meinem Erstaunen schlagartig in glühende Verehrer der insularen Küche verwandelten und zugleich Anhänger einer kollektiven Bestellung waren: gemeinsam alles essen und am Ende durch alle teilen. Diese Sozialküche steht, wie schon gesagt, in solch speziellen Momenten diametral zu meinem Individualbedürfnis.

Noch mal: ich liebe auch kulinarische Vielfalt und die kultivierte Plauderei zwischen den Gängen – aber nicht wenn ich hungrig bin! Dieter moderierte inzwischen wie selbstverständlich die Speisekarte und sagte: „Hier gibt´s nur leckere Sachen, wir essen doch von allem etwas, oder?“ Eine rein rhetorische Frage, längst war er nämlich zur Führungs-und Deutungs-Hoheit avanciert und ganz unter die Haut der Insulaner geschlüpft. Er rief den Kellner und bestellte Tapas, die mir größtenteils völlig fremd waren, wobei er beim Ordern der einzelnen Speisen weiterhin in scheinheiliger Höflichkeit „Oder?“ in die Runde fragte, um seiner Bestellung einen basisdemokratischen Anstrich zu verleihen. Niemals hätte ich es gewagt ihm mit „Ich mag aber keine Sardinen“ in die Parade zu fahren. Ergeben hörte ich ihn Gemüse und Fisch „mit schön viel Knoblauch“ in allen erdenklichen Variationen bestellen, bis mich plötzlich „Fleischbällchen in Tomatensoße“ aus meiner Lethargie rissen. Mein Magen wollte „Davon hätte ich gerne zwei Dutzend!“ schreien, riss sich aber zusammen.

Eine halbe Stunde später war unser Tisch randvoll mit kleinen Schälchen mit den verschiedensten Gerichten, über die sich nun alle hermachten. Jeder nahm sich vor meinen fressneidischen Augen etwas davon und hiervon und ständig hörte man kleine Laute des Entzückens wie „Köööstlich“ oder „Wie lecker“ oder „Delikat“. Dieter steckte keinen Bissen ohne Lobpreisung der mediterranen Küche in seinen Mund: „Leute, ihr müsst unbedingt von den Oliven in Brunnenkresse probieren, ein Gedicht!“ Mein ganzes, schlichtes Sehnen hingegen galt dem Schälchen mit den Fleischbällchen, die meiner konservativen Ansicht nach als Einzige in der Lage waren, meinen quälenden Hunger zu stillen. Als es endlich bei mir ankam, waren zu meinem Leidwesen nur noch zwei übrig. Auf meine verschämte Frage, ob wir die nicht nachbestellen könnten, meinte Dieter nur: „Aber probiere doch mal die Octopusärmchen in Senf-Koriander-Krüstchen.“

Am nächsten Abend gingen wir wieder in dieses Lokal. Bevor Dieter seine Bestellungsregie starten konnte, sagte ich laut: „Ich nehme heute mal eine große Portion von den Fleischbällchen. Nur für mich.“ Eine halbe Stunde später war ich gewaltsam in Abschiebehaft verbracht.

Trink, Brüderlein, trink…

Im zunehmenden Maße führt man im Alter Gespräche über seine Gesundheit, vordringlich über die fehlende. Meistens wird einem so ein Gespräch von anderen aufgezwungen, von Menschen, wo man es sofort bereut, dass man sie „Wie geht´s?“ gefragt hat. In der Flut ihrer Befindlichkeiten und Befunden taucht unter Garantie die Frage auf „Trinkst du denn auch genug?“, alternativ auch die Mahnung „Du musst genug trinken.“ Darüber haben wir in jungen Jahren kein Wort verloren, genug trinken gehörte zu unserem Alltag, besonders abends und nachts. Heute nun ist es ein Muss. Seltsamerweise hat man im Alter nicht mehr so viel Durst, das heißt, man muss sich zum Trinken richtiggehend zwingen. Die Angaben über das nötige Maß an täglicher Flüssigkeitszufuhr schwanken zwischen zwei bis drei Liter, manche nehmen sogar noch mehr zu sich, bewegen sich damit dann allerdings schon in Richtung Kamel. Ich habe mich zwischen zwei und drei Liter Wasser eingependelt und erschrecke mich jeden Morgen, wenn ich mir streng meine Tagesration in Glasflaschenform auf den Tisch stelle. Oh, Gott! Das soll ich heute alles trinken.

Das erste Glas schütte ich mir noch wacker rein, danach versiegt mein Bedürfnis deutlich. Natürlich variiere ich auch, trinke Wasser als Tee oder Schorle, aber die Leidenschaft, mit der ich abends mein kühles Helles verköstige, erreichen diese Mixturen nicht annähernd. Dennoch, ich beiße mich….besser, saufe mich tagsüber durch. Das wiederum hat Konsequenzen. Denn was oben reinfließt, will unten wieder raus, heißt, ich muss ständig pinkeln. Warum kann ich noch heute Stunden lang unbeweglich in einem Wirtshaus sitzen und Bier in mich reinschütten, muss aber nach einem Glas Wasser schlagartig aufs Klo? „Wasser treibt“, sagte mein Vater immer. Er musste das wissen, er war Ruderer, vergaß aber zu sagen: „Kaffee in Kombination mit Wasser treibt unvorstellbar.“

So also betrete ich nach meinem Frühstücksmüsli mit Kaffee und Wasser zum Einkaufen meinen Supermarkt und stürze sofort ins Kundenklo. Manchmal ist es so knapp, dass ich mich heimlich auf der Rückseite des Gebäudes in ein Gebüsch entleere. (Männer!) Die Stelle kennt mich schon. Fahre ich mal morgens von meinem Dorf nach Hamburg, halte ich auf den 180 Kilometern mindestens drei Mal an und schaffe es oft in letzter Sekunde in das Autobahnklo. Damit ich immer auf der sicheren Seite bin, hat mir ein Freund ein mobiles Urinal für die Autofahrt geschenkt. „In Tokio bei den vielen Staus führen das alle Autofahrer mit sich“, meinte er, dabei war der noch nie in Tokio. Das Teil sieht aus wie eine breite WC-Ente, gibt es auch mit Aufsatz für Frauen. Eine sehr praktische Erfindung und funktioniert sogar. Sieht wohl in aktiver Nutzung ziemlich erbärmlich aus, aber eine vollgepisste Hose ist ungleich erbärmlicher. Letzte Woche war ich mit meinem Auto in der Werkstatt, als ich es nach Stunden wieder abholte, lag mein geliebtes Urinal demonstrativ auf dem Beifahrersitz. Der fürsorgliche Mechatroniker muss es wohl unter meinem Fahrersitz gefunden haben. Ich glaube, ich hatte einen knallroten Kopf.

Kuckst du?

Der Durchbruch war zu erwarten: Die Hersteller von Sehhilfen, im Komplott mit den Optikern, haben mit einem cleveren Marketing dass Brillen-Design als stilvolles Mittel zur Verschönerung eines Gesichtes und zur Steigerung ihres Umsatzes gepusht. Während Menschen mit Sehschwäche früher lieber Kontaktlinsen trugen, da sie Brillen als Offenbarung einer körperlichen Behinderung hässlich empfanden, tragen heute manche Leute eine Brille, obwohl sie perfekt sehen können – einfach weil sie finden, dass so ein Teil im Gesicht etwas Tolles mit ihnen macht. Es macht sie interessanter, klüger, reifer, zumindest konzentrierter.

Ein alter Studienkollege von mir, später in der deutschen Musikszene eine Größe, gestand mir vor Jahren, dass seine Brille damals nur Fensterglas hatte, weil er damit einen intellektuelleren Eindruck schinden wollte. Er nannte sie scherzhaft seine „Intelligenzprothese“. In meiner Jugend waren Kumpels mit Brillen besonders beliebt, weil sie in einer Rauferei wunderbar benachteiligt waren, man riss ihnen einfach die Brille von der Nase und sie trafen dich nicht mehr.

Ich jedenfalls traf gestern im Supermarkt Lara mit einer neuen, schwarzen Brille, mit der sie aussah wie Buddy Holly. Passte irgendwie gar nicht. „Warst du bei der Anprobe eigentlich bei Bewusstsein?“, wollte ich sie fragen, entschied mich aber dagegen, nachdem ich spürte, wie stolz sie auf diesen modischen Klumpen war und wahrscheinlich beim Optiker Dutzende Brillen anprobiert und diskutiert hatte, bis ihr Typberater und alle weiteren Anwesenden endlich den erlösenden Satz gestöhnt hatten: „Boah! Diiiie steht dir aber gut!“

Während wir uns unterhielten, starrte ich also in ihre von dicken, schwarzen Kreisen umrahmten Augen und konnte mich einfach nicht konzentrieren. Aber Lara ist in guter Gesellschaft, denn seit längerem schon beobachte ich Promis oder Politiker, die mit extravaganten, teils überproportionalen Augengläsern ihrer öffentlichen Wirkung eine vitale, modische Attitüde verleihen wollen. Einige sehen damit wie Uhus, andere eher wie Horst Schlemmer, ganz wenige dadurch besser aus. Dem überwiegenden Teil, so empfinde ich immer, ist keine ehrliche Beratung zuteil geworden. Beim Abschied drehte sich Lara noch mal um und rief: „Ach, wie findest du übrigens meine neue Brille?“ „Euch auch“, antwortete ich und stieg rasch in mein Auto.

Autobrei

Alle jungen Menschen jetzt mal Augen zu. Hey, Alter! Erinnerst du dich noch an diesen Moment, wo du dir vor dem Ausstellungsraum eines Autoherstellers an der Scheibe verzückt die Nase platt gedrückt hast? Da stand er, unvergleichlich, außergewöhnlich, atemberaubend in Form und Stil, der neue Citroen, oder Alfa Romeo, oder Renault, oder BMW, oder Opel GT. Sogar in einen Honda wollte ich mich, verliebt bis über beide Ohren, mal zwängen, hab mich dann aber für den noch originelleren Mini entschieden. Total innovativ war der RO80, mit Wankelmotor! Autos, nach denen sich die Menschen auf der Straße den Kopf verdreht haben. Schaut man sich heute die Autos an – ein einziger, kotzlangweiliger, optischer Brei. Eins wie das andere, jeder klaut bei jedem, es gibt keinen Unterschied mehr. Keinen!
Überall Karosserien die aussehen, als wären sie von Riesenwespen gestochen worden, überall Beulen und Schwellungen, winzige Heckfenster mit entzückender Blechmarkise – aber vor allem: Der SUV-Virus! Diese Karosseriekrankheit, die Fehlgeburt eines sibirischen Auto-Designers, der jeden Städter damit durch den Schlamm seines Stadtparks schicken wollte, der Autotyp, der heute die Straßen dominiert und bräsig verstopft. Bald gibt es Kinderwagen-SUV´s. Es ist Wahnsinn. Alle jungen Menschen jetzt wieder die Augen auf: Von Toyota gibt´s jetzt den neuen Instagram! Bei Neukauf gibt´s 500 Follower gratis.

Graffiti-Terror

Mein Freund hat das schöne, zweistöckige Haus seiner Eltern in der Altstadt am Fluss geerbt. Nach dem großen Hochwasser schütteten die Stadtväter großzügige Finanzhilfen über die geschädigten Bürger aus. Das war seine Chance, endlich die große Hauswand an der Gasse, die direkt runter zum Fluss führt, neu verputzen und streichen zu lassen. Die graue Fassade war ihm schon lange ein Dorn im Auge, nun strahlte sie schneeweiß und makellos. Er dankte der Hochwasserhilfe von Herzen. Zwei Tage später stand, in riesigen Buchstaben und leuchtendem Blau gesprayt, „BLACK LIVES MATTER!“ dran. Als gerechter Mensch, der er war, hatte er wohl Verständnis für die Solidarität mit den Vernachlässigten und Unterdrückten – aber nicht für diese Aktion. Er kochte vor Wut.

Am nächsten Tag hing ein laminierter Brief „An die lieben Damen und Herren Sprayer“ an der geschändeten Wand, in dem er sie einlud, doch zu ihm zu kommen und ihm bei einem gut gekühlten Bier all ihren Frust zu offenbaren und gemeinsam Lösungen zu erarbeiten – aber nicht an seiner Hauswand! Ein Reporter der örtlichen Presse hatte den Brief sogar fotografiert und in der Zeitung, als Dokument der Verzweiflung eines ehrenwerten Bürgers im Kampf gegen Anarchie und Vandalismus, groß abgedruckt. Der/die Täter nahm/en die Einladung nicht an. Irgendwann hatte ein weiterer Schmierfink mit einem dicken Filzschreiber noch „Jesus lebt“ dazu gekritzelt. Nach Monaten des Leidens beauftragte mein Freund einen Maler damit, diese optische Schande zu beseitigen. Danach leuchtete die Hauswand zu seiner großen Freude endlich wieder im makellosen Weiß. Eine Woche später stand, blutrot und riesig, „Fleischesser sind Kannibalen“ dran. Ich stellte die These auf, dass der Täter aus seinem inneren Zirkel stammen müsste, denn wer wüsste sonst, dass seine Lieblingsspeise krosser Schweinebraten war? Daraufhin drohte er mir zornig an, an meine Wohnungstür „Bier ist auch keine Lösung“ zu sprayen. Verbitterte Freunde können so verletzend sein.

Unwürdig

Der singenden Kunst baut man bombastische Opernhäuser, der Schauspielkunst grandiose Theater, der Kunst der Malerei prächtige Museen, der göttlichen Botschaft gewaltige Kirchen und der Kunst des Herrschens prunkvolle Schlösser. Und was ist mit dem Humor? Dem man immense Wirkung auf Mensch und Gesellschaft zuschreibt, magische, heilende Kräfte attestiert, ja sogar für den einzig Befähigten hält, als global Regierender der Welt den ewigen Frieden zu bringen? Wo steht sein würdiges Haus, in dem man die Kunst der Karikatur preisen und diese famosen Energie genießen kann? Vielleicht dort, wo einst Heinrich Zille seinen genialen Pinsel schwang, in der Hauptstadt Berlin? Vielleicht in Karl Valentins München? Weit gefehlt. Geld für die Kunst des Lachens? Diesem stoßartigen, lauthalsen Geräusch mit dem unkontrollierten Körperzucken? Abgelehnt! Bitte wenden Sie sich doch an den nächsten Arzt oder Apotheker.

Der Ausbruch

Seit gut zwei Wochen starre ich wir paralysiert auf Bilder, die täglich in den Medien zu sehen sind und kann es einfach nicht glauben: Der Vulkan Cumbre Vieja auf La Palma ist ausgebrochen. Unweit von seinem Lavafluss hatten wir mal 22 Jahre ein Ferienhaus, quasi nebenan. Wenn die ausgewanderten Freunde damals wieder mal die Vorteile und Schönheiten „ihrer“ Insel priesen und damit ihren Umzug verteidigten, wenn sie den europäischen Kontinent mit all seinen Gefahren provozierend in düsteren Farben malten, dann zogen wir in unserer Verzweiflung die Karte der palmerischen Vulkanbedrohung und erntete dafür nur Gelassenheit: „Kein Thema, da leben wir längst nicht mehr.“

Zugegeben, ich hab ich das dreist auch für unmöglich gehalten und hörte ihre Zuversicht gerne, denn immerhin stand auch unser Haus im Einzugsbereich eines Vulkans. Seine Energie glaubte ich immer unter mir zu spüren, war oft unruhig, träumte völlig irres Zeug und wurde ab und zu mal von massiven Gemütsstimmungen befallen, die mir sonst in dem Maße fremd waren. Als guten Geist, als Beschützer unseres Hauses, habe ich dann demonstrativ eine gewaltiges Lavasteinfragment vom letzten Ausbruch in unseren Garten stellen lassen und ihn mit seinen Runzeln vom Lavafluss speziell für unsere Söhne als „alten Mann“ bezeichnet, der auf uns alle aufpasst. Bis zum Verkauf meines Hauses hatte er seine Aufgabe vorbildlich erfüllt, warum er 2021 plötzlich keine Lust mehr hatte, macht mich sprachlos. Denn durch Todoque, direkt nebenan, kroch nun vor meinen Augen und denen der ganzen Welt auf den Bildschirmen eine riesige schwarze Welle von Lava und fraß vor meinen entsetzten Augen der Reihe nach die Häuser, Gärten und Pools vieler meiner Freunde und Bekannten. U.a. das Haus von Klaus und Karin, von Martin, Manuela, Tina und Axel, Stück für Stück, wie ein Monster legte es sich über die Dächer, umschlang die Wände, ließ Scheiben zerbersten, Mauern einstürzen und Gasflaschen explodieren. Ein Inferno. Die ganze Welt sah zu, wie die Lava sich spektakulär in den Garten und den Pool von Manuela stürzte. Und erschauderte.

Ich kannte jeden Winkel vieler ihrer Immobilien, hab dort jahrelang wundervolle Stunden verbracht, den Träumen und Optimierungswünschen ihrer Besitzer gelauscht, ihren Stolz gespürt und mich an ihrem Glück erfreut. Sie waren angekommen und hatten ihren Platz gefunden. All ihre Behördengänge, Kosten, Mühen, Sorgen und Gedanken waren mir nur zu bekannt. Viele, wie ich, mussten sich richtig lang machen für diesen Ferientraum und sich mit Zimmervermietung oder kurzfristigen Krediten über mach klamme Runden helfen. Die Pflege und Gestaltung der Räume und Gärten, die banale Beschaffung einer neuen Lampe, einer Matratze, eines Wäscheständers oder einer Knoblauchpresse, alles das war auf La Palma in den 80er/90ziger Jahren – auch später noch – teils ein abenteuerliches Unterfangen. Hunderte kleiner Besorgungen und Erledigungen, um das heimische Nest, Haus oder Wohnung, zu erhalten und zu verschönern. Jeder kennt das. Und nun liegt das alles unter einem steinernen Leichentuch begraben.

Angenehme Temperaturen, magisches Licht, klappernde Fächerpalmen und über allem ein unvergleichliches Blau, geziert von flauschigen Passatwolken, dieser Traum ist La Palma weiterhin – aber nun sind da diese unvorstellbaren Bilder. Wie aus einem billigen Lothar Emmerich Katastrophenfilm. Das erste Foto, eine Minute nach dem Ausbruch schoss Manuela von ihrem Haus. Schneeweißes Mauern, sonniges, strahlendes Szenario und im Hintergrund eine störende Rauchwolke, als würde ein Einheimischer Autoreifen verbrennen. Und dann zeigte die Natur, wozu sie fähig ist. Sie nimmt keine Rücksicht auf irgendwas, nicht mal eine Kirche war ihr heilig, wälzte sich wie ein Drache feuerspeiend in Richtung Meer.

Ja, wer unter Vulkanen, dicht an Bergrücken, Meeren oder Flüssen baut, spielt Russisch Roulette. Die menschliche Hybris wird bestraft. Ich weiß. Aber der Natur bei so einem Wutausbruch zuzuschauen, ist furchterregend und unglaublich erschütternd. Ältere Palmeros erleben den dritten Vulkanausbruch seit 1949. Sie werden „tranquillo“ sagen, einen Cortado trinken, in die Hände spucken und weiter leben. Mit ihren Vulkanen.