Waldbühne 1965

Mit keinem Ereignis aus meinem Leben kann ich mehr punkten, als damit, dass ich mit meiner Band, den Team Beats Berlin, am 15. September 1965 im Vorprogramm des Auftritts der Rolling Stones in der Berliner Waldbühne gespielt habe.

Mit uns von der Partie damals noch die Rockets, die Rivets und Didi und die ABC-Boys. Ich weiß noch, wie ich kurz vor Beginn auf der dunklen Bühne zu meinem Schlagzeug gehuscht bin, um noch mal den Klang meiner Snaredrum zu checken. Ich glaub ich war nervös, wollte natürlich auch angeben. Einen kurzen Schlag machte ich nur und erhielt daraufhin aus 20.000 rockdurstigen Kehlen ein gewaltiges „Rooooaaaaarrrr!“. Nie wieder habe ich mit so wenig Einsatz einen so gigantischen Erfolg erzielt.

57 Jahre (!) später waren die Stones wieder da, jetzt am 3. August, im Gegensatz zu einst, lief dieses Mal alles sehr fröhlich und friedlich ab. 1965 haben die Zuschauer die Waldbühne verwüstet. „Eine Million Schaden“ titelten die Berliner Gazetten. In der Redaktion der Jugendzeitung, für die ich damals arbeitete, zerbrach man sich den Kopf über diese verstörende Gewaltbereitschaft einer neuen Jugendkultur, sah die Ursachen in der Gesellschaft und ihren sozialen Spannungen. Ich musste grinsen. Hätten sie mich mal gefragt, ich hätte ihnen für den Fall „Waldbühne“ eine simple Erklärung geben können, denn ich stand ja Backstage, hatte einen guten Überblick auf das Geschehen – und war Zeuge, wie plötzlich aus heiteren Himmel ein Typ – später nannte man solche Leute „Flitzer“ – quer über die Bühne schoss, fies hinterrücks Mick Jagger seine Jacke aus dem Händen riss, die er gerade über seinem Kopf geschwenkt hatte, und sich mit seiner Beute kopfüber in die Zuschauermenge warf. Dort stürzten sich die Fans wie Piranhas auf ein Stück Fleisch auf das Jäckchen und zerfetzten es.

Und Mick musste das hilflos mit ansehen. Vermutlich hatte er sich die Jacke gerade vorher noch in der Carneby Street gekauft oder es war ein Geschenk seiner Mutti? Wie auch immer, Tatsache ist, dass Mick darüber richtig böse wurde – man konnte es bis hinter die Bühne spüren – und nach Rache sann. Die bot sich ihm, als der letzten Titel gespielt war und die völlig begeisterten Zuschauer sich auf ein paar Zugaben freuten. Fickt euch ins Knie, hat Mick gedacht, nix da. Das Licht auf der Bühne ging aus und 20.000 Leute warteten darauf, dass es wieder anging und die Stones noch mal für ein, zwei Zugaben erschienen. Doch die Bühne blieb dunkel.

Die Stones waren längst über alle Berge, saßen schon in ihren Hotelzimmern, hatten ihre Groupies auf´m Schoß, soffen kaltes Bier und feixten sich einen, wenn sie an die 20.000 blöden Kraut-Gesichter dachten. Was dann kam, ist die Geschichte von Enttäuschung, Wut und Zerstörung. Das ist der wahre Hintergrund eines legendären, aus dem Ruder gelaufenen Rockkonzertes. So profan kann die Ursache für einen Gewaltausbruch sein. Aber das ist ja bei allen Kriegen nicht anders.

Zahlen!

Zu den vielen Talenten die ich nicht habe, gehört auch die Mathematik. Eigentlich mag ich sie, wenn da nur nicht diese bescheuerten Zahlen wären. Für einen Mathematiker die glorreichen Zehn, für mich die zehn Verdammten. Mag sein, dass meine Zahlenallergie von meiner Lebensgeschichte geprägt ist. Mein Vater war Steuerberater und hat zu Hause gearbeitet. Immer wenn meine Mutter ohne Bodenberührung die Diele entlanggeschwebt ist, wusste ich: „Vati macht Bilanz.“ Das hieß, er addierte oder subtrahierte Zahlen, die am Ende übereinstimmen mussten. Fehlte ein Pfennig, konnte er wieder von vorne anfangen – und wir uns eingraben. Seine Tür zum Büro war dann geschlossen und Mutter schob ihm mehrmals am Tag, wie bei einer Raubtierfütterung, ein paar Wurst- oder Apfelscheiben unter der Tür durch.

Wir hatten Angst, weil er um nichts in der Welt gestört wurden durfte, sonst brannte die Luft. Da wusste ich, Zahlen sind etwas ganz Kompliziertes und wenn man sie auch noch zusammenzählen oder aneinanderreihen muss, der blanke Wahnsinn. Davon hat der Deutsche Bankenverband Wind bekommen und extra für mich die IBAN-Nummer erfunden. Nur um mich fertig zu machen. Und so fülle ich seitdem vorgedruckte Überweisungsformulare mit seelenlosen Bandwurmzahlen aus, zähle leise murmelnd Perlenketten von Nullen durch, am Ende ist es immer eine zu wenig – oder zu viel. Erst recht, wenn ich das in meiner Filiale am einzigen Überweisungsautomaten tätige, vor dem bereits andere Kunden unruhig darauf warten, dass ich endlich fertig werde. Dann mache ich Fehler und damit die Nachrücker noch unruhiger. Eine echte Spirale. Aktuell, in Coronazeiten, liegt meine Filiale in mitarbeiterloser, geisterhafter Stille, nur Zettel an den Wänden weisen auf den Segen des Onlinebankings hin. Wer ihrer digitalen Errungenschaft nicht traut, soll gefälligst sein ausgefülltes Überweisungsformular per Post an die Zentrale, weit oben an der Westküste senden.

Gestern habe ich eins an das Auffangbecken für angepisste Bankkunden (AFAB) ausgefüllt und abgeschickt. IBAN85 12700 27380 00000 00000 0000 00001226 0000 6500 000112 00054 000000. Ich bin mal gespannt.

Spiderman

Ich putze mal meine Bude. Das mache ich gerne leicht bekleidet, weil ich sonst immer so schwitze. Gerade fege ich die Diele, da läuft eine Spinne vorbei. Ganz cool und entspannt tippelt sie in Richtung Wohnzimmer. Ja, geht´s noch? Ich öffne die Wohnungstür und fege sie resolut mit dem Besen raus. Verpiss dich! Sie landet auf dem Fußabtreter, zappelt kurz unmutig und steht dann wieder auf ihren acht Beinen. Ich will ihr gerade den Weg zum Nachbarn weisen, da stürzt sie sich zielstrebig zurück in meine Wohnung. Sie mag mich. Ich sie nicht. Empört mache ich einen Schritt nach vorne, um sie wieder zurückzufegen, da höre ich hinter mir ein trockenes „Klack!“. Nein!? Meine Wohnungstür ist ins Schloss gefallen, der Schlüssel steckt innen und ich stehe nur in Unterhose im Hausflur. Ein ganz schwerer Moment in meinem Leben. Im selben Moment öffnet meine Nachbarin, eine junge Frau, ihre Tür und stößt einen spitzen Schrei aus. Ich presse mich scheu an die Wand. Sie stürzt in ihre Wohnung und kommt mit ihrem Handy wieder heraus. „Fotografieren verboten!“ rufe ich panisch. Zu spät. Auf Instagram hatte das Foto 23.450 Klicks. Ich will da nun eine Outdoor-Serie draus machen.

App-App, Hurra!

Danke, App! Mit dir ist das Leben jetzt so viel leichter. Du sagst mir, was ich falsch oder richtig mache, warnst mich vor Schnee, Regen und Wind, vor Kranken und geistig Armen, vor Blitzern und Blendern. Ein Freund von mir hatte letztens ein Date mit einer Frau, die auf ihrem Instergram-Account aussah wie Kirsten Dunst, in der Realität allerdings wie Cindy aus Marzahn. Mit meiner Dating-Warn-App wäre ihm das nicht passiert. Du gibst einfach ihren Namen ein und in Stichworten, was sie dir alles von sich erzählt hat, z.B. Aussehen, Maße, Charaktereigenschaften, Vorlieben, Talente und Sehnsüchte. In wenigen Sekunden erscheint das Ergebnis in Farbe. Rot heißt: Hände weg, Gelb: Unter Vorbehalt. Blau: Sie trinkt. Grün: Sie ist es! Mein Freund hat sich die App sofort runtergeladen, damit er beim nächsten Date besser vorbereitet ist. Ich wies ihn allerdings darauf hin, dass Frauen diese App auch nutzen, so weiß seine Kandidatin z.B. gleich, dass er schnell beleidigt ist.

Wundermittel

Mein Postzusteller reicht mir einen Haufen Briefe und zwinkert mir zu. „Auf die Gesundheit“, sagt er und eilt weiter. Von den acht Briefen sind sieben Werbung, nur einer ist vom Finanzamt, alle anderen bezeugen auf den Umschlägen mit „Nie wieder Schmerzen“ oder „Vom Rollstuhl zum Triathlon!“, dass sich die Hersteller von neuartigen Heilmitteln auf mich eingeschossen haben. Sie versprechen mir, dass ich in Zukunft keine Brille, Gehhilfe oder Appetitzügler mehr brauche. Nie wieder Blutdruck- oder Cholesterinsenker, Schmerztabletten oder Blutver-dünner! Vorbei! Meine Zellen erneuern sich, mein Knochengerüst baut sich komplett wieder auf, meine Lebenslust explodiert, kurzum, es findet eine radikale Runderneuerung statt. In Zukunft reicht eine Dose Babycreme. Mehr nicht. Ich lese verzückt, in welchen Regionen dieser Welt Pflanzen wachsen oder Wesen leben, in deren Substanzen wahre Wunderwirkungen schlummern. Auf der Suche nach ihnen tauchen engagierte Homöopathen in die Tiefen der Ozeane, klettern auf die höchsten Berge oder schlagen sich durch die dunkelsten Wälder. Ich nutze hier die Gelegenheit, um zu bekennen, dass ich vor nicht allzu langer Zeit klammheimlich der Werbung für eines ihrer Präparate, das in meinem Herzen die unwichtigen Dinge des Lebens von den Wichtigen trennen sollte, verfallen bin. Und es wirkte: die lästigen Mahnungen des Herstellers nach Begleichung seiner Forderungen werfe ich ungelesen und fröhlich in den Mülleimer.

Zensur

Am 3.1.2022 traf mich zum dritten Mal die Abstrafung eines kommunikativen Internetgiganten: eine Abmahnung von Instagram, wo ich regelmäßig Cartoons von mir poste. „Du musst dort dabei sein“, riet mir einst vor zwei Jahren einer meiner Söhne, „sonst bist du weg vom Fenster.“ Wer will denn schon „weg vom Fenster“ sein? Das bedeutet doch, nichts mehr sehen von draußen, nichts mehr verstehen was läuft, ausgestoßen aus dem pulsierenden Leben, vom Zeitgeist gekappt – Endstation Friedhof. Nein, das will ich nicht. „Facebook“, meinte mein Sohn noch, „sei ja ganz nett aber längst der Tummelplatz der Alten, quasi der Gemeinschaftsraum des digitalen Altenheims.“ Bevor ich mich und meine Facebookfreunde vehement verteidigen konnte, war er rasch wieder im Netz abgetaucht.

Anlass meiner Abmahnung von Instagram („…beim nächsten Verstoß gegen unsere Richtlinien werden wir dein Konto, einschließlich deiner Beiträge und deines Archivs, möglicherweise löschen.“) war ein Cartoon von mir (siehe Anlage) in dem ich einen nackten Mann am Strand gezeichnet habe, an dessen Pimmel eine Weihnachtsbaumkugel hängt. Dies sollte eine Satire darauf sein, dass sich die Menschen real Nadeln oder Ringe durch Lippen, Münder, Zungen, Hoden, Schwanz und sogar Schamlippen bohren, kurzum piercen. Da ist eine bunte Weihnachtskugel am Glied doch eine witzige Idee, dachte ich. Hatte mich sowieso schon gewundert, dass nicht längst vor mir ein Kollege/eine Kollegin darauf gekommen war. Auf Instagram verletzte ich damit also die „…Richtlinien aus folgendem Grund: Nacktheit oder sexuelle Handlungen“. Ich habe mich sofort an den lieben Gott gewandt (www.derschöpfer.de) und ihm den Fall geschildert. Seine Antwort kam prompt:

Lieber Peter, bei der Konstruktion des Menschen in unserem himmlischen Hause wurde auf höchste Perfektion und Funktionalität geachtet. In der Grundausstattung ist unser Mensch in ganzer Schönheit bewusst nackt und funktional gehalten. Eine Unterscheidung in positive oder negative Organe entspricht in keiner Zone dieser, unserer Schöpfung unseren himmlischen Statuten von Reinheit und Wahrhaftigkeit. Jedwede ideologische oder moralische Anmaßung selbsternannter Zensoren oder Scheinheiligen, diese gottgewollte Natürlichkeit mit Scham oder Schuld zu belegen, gar zu bestrafen oder mit Buße zu belegen, verurteilen wir aufs Schärfste. P.S. Gegen die versauten Amis mit ihrer blutrünstigen, krankhaft perversen, weltweiten Porno- und Filmindustrie, läuft bei uns übrigens ein Himmelsausschlussverfahren. Mit freundlichen Grüßen, OmG

Ich hab sofort geantwortet und mich bei Gott herzlich bedankt.
Er antwortete nur: „Sehr gerne.“

 

Die Arbeit nicht erfunden

Für meine Eltern war ich einfach da. Ich war ihr Zweitgeborener und gehörte mit Fleisch und Blut in unsere Familie. Diese Selbstverständlichkeit hatte manchmal zur Folge, dass sie gar nicht mehr merkten, dass ich anwesend war.

Ich saß also jeden Abend mit ihnen am Tisch, um eine gemeinsame, warme Mahlzeit einzunehmen und hörte stumm zu, was sie alles erzählten. Meine Mutter sprach vom Seifenhändler, der seine Kundinnen politisch indoktrinierte („Die Russen kommen!“), mein Bruder von seinem Fahrrad („Je härter der Sattel, umso besser.“) und mein Vater aus seinem Berufsleben („Die Hübner hat´n Verhältnis mit dem Klingbeil.“). Keiner fragte mich nach meiner Lehrerin („Schönen Mund.“), es interessierte keine Sau.

Am Ende des Schuljahres würden sie ja alles sowieso auf meinem Zeugnis lesen. Als Familienoberhaupt stand meinem Vater auch die meiste Redezeit zur Verfügung und die nutzte er ausgiebig, um sich zum Thema „Arbeit“ auszulassen. Was ich sofort verstand: er war der einzige Mensch auf der Welt, der wirklich richtig arbeitete. Sein Bruder hingegen hatte die Arbeit nicht erfunden und sein Schwager wusste gar nicht, was Arbeit ist. Von seiner Schwester wollte er gar nicht reden, die war, als der liebe Gott die Arbeit verteilte, nämlich sofort auf die Toilette geflüchtet. Sämtliche Menschen, außer meinem Vater, drückten sich also vor der Arbeit. Was ich auch noch am Abendbrottisch begriff, war seine subjektive Selbstwahrnehmung. Gut, ich war noch klein, hatte aber zwei wache Augen und die hatten längst erkannt, dass mein Vater sich wahrlich nicht kaputt machte. Er war Steuerberater und arbeitete die halbe Woche zu Hause, wo es, wenn er Bilanzen machte, in der Wohnung mucksmäuschenstill sein musste und meine Mutter ihm auf Filzpantoffeln und demütig gebeugt ein Tellerchen mit Wurstscheiben neben seine Schreibmaschine schob.

An den anderen Tagen besuchte er seine Mandanten, die mir – als ich nach seinem Tode an seinem Grab stand – kondolierten und einhellig von ihm schwärmten: „So ein fröhlicher Mensch, er hatte immer Zeit für ein Schwätzchen mit Kaffee und Kuchen.“ Später drang noch an meine Ohren, dass Vaters Bruder der Ansicht war, mein Vater hatte die Arbeit nicht erfunden und der Schwager meinte, dass mein Vater gar nicht gewusst habe, was Arbeit sei. Meine Tante, also Vaters Schwester, hatte noch hinzugefügt, dass ihr Bruder, als der liebe Gott die Arbeit verteilt hatte, rechtzeitig aufs Klo geflüchtet war. Ich konnte förmlich hören, wie mein Vater sich im Grabe umdrehte.

Food-City

„Immer geradeaus, und dann den zehnten Gang, direkt am Maggi-Center links, und an der Kreuzung, beim großen Coffee-Tower, rechts. Danach den zweiten Gang, direkt am Dressing-Corner wieder links. Dann sehen Sie schon.“ Ich bedanke mich und fahre meinen Einkaufswagen in die empfohlene Richtung, biege aber einen Gang zu früh ab und lande in der Pasta-Street. Nach gefühlt Millionen Nudeln erreiche ich eine Abzweigung in Richtung Milki Way. Am Asia-Food-Circle nehme ich die zweite Ausfahrt, lande direkt im Bio-Park und verlasse ihn am Veggie-Garden. Endlich erreiche ich die Cooler-Highway mit den Hunderttausend Joghurtbechern und lege eine Mango-Papaya-Töpfchen in meinen Wagen. Wegen erhöhten Verkehrsaufkommens bei den Sonderangeboten wähle ich den Umweg über den Hot-Spot mit den scharfen Gewürzen und lande wieder bei der freundlichen Frau von vorhin. „Na? Alles gefunden?“, fragt sie. „Ja“, sage ich glücklich reiche ihr meine Come-Back-Card.

Anlage

Es ist ruhig im Supermarkt, ich schiebe meinen Einkaufswagen zur Kasse und lege die Waren auf das Laufband. Im flotten Tempo scannt die Kassiererin alles ein und sagt freundlich:„Einunddreißigvierzig.“ Ich hole meine EC-Card heraus, starre auf das Kartengerät und frage doof: „Was muss ich tun?“ Sie antwortet „Ranlegen oder reinstecken, wie Sie wollen.“ Kurze Pause, dann grinst sie und fängt an zu kichern. Die Kollegin an der Kasse gegenüber tut es auch – und ich kann nun ebenfalls nicht anders und pruste los. Bin ich gerade dass Ziel weiblichen Sexismus geworden oder einfach nur zweier phantasiebegabter, humorvoller Frauen, die rollenentspannt über die bildliche Komik des Wortes „anlegen“ lachen können? Ich jedenfalls amüsiere mich bei dieser Vorstellung noch köstlich als ich schon draußen bin. Ist ja genau mein Humor. An der Ausgangstür lese ich: „Schön, dass Sie da waren.“ Finde ich auch.

Verlassen

Worst Case Szenario: mein Internetzugang streikt. Vor einer Stunde noch war ich drin, nun diese rote Warnlampe an meiner Fritz Box.

Heißt, ich bin draußen, ein Ausgestoßener aus dem digitalen Paradies. Ich tue, was ich gelernt habe: Stecker ziehen, dreißig Sekunden warten – und wieder rein. Das berühmte Reset. Normalerweise funktioniert das, aber nicht heute. Warum elektronische Bauteilchen plötzlich den Wunsch verspüren, dich zu ärgern – ich verstehe das nicht. Aber ich verstehe ja vieles nicht. Also ziehe ich alle Stecker raus, die sich im Raum befinden. Ein Versuch. Nix. Ich stelle nebenbei fest, dass auch mein Telefon nicht mehr funktioniert. Aha! Man hat sich gegen mich verschworen. Wahrscheinlich die Achse Merkel-Schwan-Drosten-Gates.

Ich rufe über mein Handy einige Nachbarn an, ob sie gleiche Boshaftigkeit erfahren. „Nö, bei uns ist alles in Ordnung.“ Warum klingt das immer so ein klein wenig hämisch? Ich ziehe noch mal alle Stecker raus, sogar den von der elektrischen Zahnbürste und dem Nasenhaarschneider. Ein Versuch. Ohne Erfolg. Da sitze ich nun, schlagartig arbeitslos. Mein elektronisches Zeichentablett ist schwarz wie die Nacht. Tot. Es gibt Schlimmeres, sage ich mir und gehe raus an die frische Luft, bisschen spazieren, aber in meinem Kopf dreht sich alles um dieses Problem. Er wird nicht frei. Wieder zurück, kontaktiere ich einen örtlichen Fachmann. Er rät mir, mal den Stecker zu ziehen und drei Minuten zu warten. Ziehen kenne ich, drei Minuten sind mir neu. Also daran liegt es, ich muss der Technik mehr Zeit lassen zur Erholung. Ich ziehe also wiederum die Stecker und zähle bis 180. Und? Nix. Ich rufe noch mal den Fachmann an. Er ruft mal bei meinem Anbieter an, sagt er. Mir ist das recht, denn bei technischen Fragen stelle ich mich generell gerne blöd an.

Der Anbieter weiß nichts von einer Störung in meinem Bereich, nein, alles okay. Schade. Ich spüle also das erstaunte Geschirr, räume einen entsetzten Schrank auf, putze meine verschreckten Schuhe und die verstörten Fenster, schneide mir die verdutzten Fußnägel und koche mir anschließend Spaghetti. Hab ja Zeit. Ab und zu besuche ich meinen trostlosen Arbeitsplatz und rede mit ihm über die guten alten Zeiten. Gegen 16:30 Uhr halte ich es nicht mehr aus, ich rufe – persönlich! – bei meinem Internetversorger an. In der Warteschleife esse ich einen Obstsalat und lasse mir von einer sanftmütigen, mich um Geduld bittenden Frauenstimme die Ohren spülen. Dann endlich: „Guten Tag, mein Name ist Melanie, was kann ich für Sie tun?“ Ich danke Gott und Melanie und klage ihr mein Leid. Sie ist freundlich und warmherzig, macht meinen Kummer zu ihren. Ich würde jetzt gerne meinen Kopf auf ihre starke Schulter legen. „Na, dann schaue ich mal nach ihrem Anschluss“, sagt sie fürsorglich und vermittelt mir ein mütterliches Gefühl von Geborgenheit. Stille. Sie schaut. Ich warte und stoße säuerlichen Apfelgeschmack auf. Dann höre ich sie einen erstaunlichen Satz sagen: „Ich sehe gerade, wir haben heute Vormittag bei Ihnen was umgestellt.“

Er hallt lange in mir nach. „Und warum hat man mich nicht vorher davon informiert?“ möchte ich formulieren, werde aber meine Mutti nicht mit patzigen Fragen verletzen, niemals. Sie führt mich weiter einfühlsam wie einen Blinden durch diverse Menüs, bleibt auch bei meinen blödesten Fragen und Kommentaren geduldig und wartet sogar endlose Minuten, die ich benötige, um in meinem Chaos ein Passwort zu finden. Dann ist es so weit, ich bin wieder drin, ich gehöre wieder dazu! Ich sage: „Ich liebe Sie.“ Sie mich auch, meint sie. Wir trennen uns schweren Herzens, weil sie leider Feierabend machen muss. Im Überschwang meines Glückes bestelle ich mir anschließend bei Amazon schwarze Herrensocken, Größe 44/46, im Dreierpack. Bestimmt von minderjährigen Chinesen gestrickt. Scheiß drauf, man muss sich auch mal was gönnen.