Kuckst du?

Der Durchbruch war zu erwarten: Die Hersteller von Sehhilfen, im Komplott mit den Optikern, haben mit einem cleveren Marketing dass Brillen-Design als stilvolles Mittel zur Verschönerung eines Gesichtes und zur Steigerung ihres Umsatzes gepusht. Während Menschen mit Sehschwäche früher lieber Kontaktlinsen trugen, da sie Brillen als Offenbarung einer körperlichen Behinderung hässlich empfanden, tragen heute manche Leute eine Brille, obwohl sie perfekt sehen können – einfach weil sie finden, dass so ein Teil im Gesicht etwas Tolles mit ihnen macht. Es macht sie interessanter, klüger, reifer, zumindest konzentrierter.

Ein alter Studienkollege von mir, später in der deutschen Musikszene eine Größe, gestand mir vor Jahren, dass seine Brille damals nur Fensterglas hatte, weil er damit einen intellektuelleren Eindruck schinden wollte. Er nannte sie scherzhaft seine „Intelligenzprothese“. In meiner Jugend waren Kumpels mit Brillen besonders beliebt, weil sie in einer Rauferei wunderbar benachteiligt waren, man riss ihnen einfach die Brille von der Nase und sie trafen dich nicht mehr.

Ich jedenfalls traf gestern im Supermarkt Lara mit einer neuen, schwarzen Brille, mit der sie aussah wie Buddy Holly. Passte irgendwie gar nicht. „Warst du bei der Anprobe eigentlich bei Bewusstsein?“, wollte ich sie fragen, entschied mich aber dagegen, nachdem ich spürte, wie stolz sie auf diesen modischen Klumpen war und wahrscheinlich beim Optiker Dutzende Brillen anprobiert und diskutiert hatte, bis ihr Typberater und alle weiteren Anwesenden endlich den erlösenden Satz gestöhnt hatten: „Boah! Diiiie steht dir aber gut!“

Während wir uns unterhielten, starrte ich also in ihre von dicken, schwarzen Kreisen umrahmten Augen und konnte mich einfach nicht konzentrieren. Aber Lara ist in guter Gesellschaft, denn seit längerem schon beobachte ich Promis oder Politiker, die mit extravaganten, teils überproportionalen Augengläsern ihrer öffentlichen Wirkung eine vitale, modische Attitüde verleihen wollen. Einige sehen damit wie Uhus, andere eher wie Horst Schlemmer, ganz wenige dadurch besser aus. Dem überwiegenden Teil, so empfinde ich immer, ist keine ehrliche Beratung zuteil geworden. Beim Abschied drehte sich Lara noch mal um und rief: „Ach, wie findest du übrigens meine neue Brille?“ „Euch auch“, antwortete ich und stieg rasch in mein Auto.

Handy-Mandy

Ich laufe den Berg hoch. Oben angekommen verschnaufe ich auf einer Bank. Weiter vorne ist ein Aussichtspunkt, von einem Geländer aus hat man einen grandiosen Blick auf die kleine Stadt. Dort steht, mit dem Rücken zum Tal, ein junges Pärchen und eine Freundin, die sie mit ihrem Handy fotografiert. Sie wirkt ehrgeizig, bewegt sich mal leicht nach rechts, mal nach links, immer auf der Suche nach dem idealen Winkel. Ich schaue mir das vergnügt an, frage mich aber, ob ihr klar ist, dass das mit der hellen Mittagssonne im Rücken der beiden nichts werden kann? Sie fotografiert und fotografiert. Immer wieder schaut sie sich das Ergebnis auf dem Handy an und grübelt. Zufriedenheit sieht anders aus. Würde das Paar drei Schritte nach rechts treten und sich leicht drehen, stünden sie im Licht. Darauf kommt die Fotografin aber nicht. Sie denkt wohl, ihr Handy regelt das von selbst, die Wunderteile können ja zaubern. Beseitigen Falten, überflüssigen Speck, justieren schiefe Gesichter, bleachen Zähne, füllen Haare, da werden sie doch wohl noch aus schwarzen Gesichtern helle machen, oder was? Ich kann es nicht mehr mit ansehen und rufe: „Hey, Handy-Mandy! So wird das doch nix! Viel zu dunkel!“ Die Fotografin ist irritiert und wenig zugänglich, knurrt etwas von „Versuch“ und „meine Sache“, schießt noch mal ein Foto, dann verschwinden sie. Am nächsten Tag titelt die Passauer Neue Presse groß mit: „Alter weißer Mann belästigt junge Menschen!“

Schneidig

Männer lieben es gerne scharf, was sie hassen, sind stumpfe Messer. Jedes Mal, wenn ich in Ferienwohnungen in bester Urlaubslaune die Küchenschubladen herausziehe, deprimieren mich Teile, die den ehrenwerten Titel „Messer“ verhöhnen. Ferienwohnungen sind beliebte Entsorgungsplätze für die ausgedienten Haushaltsgeräte aus den privaten Wohnungen ihrer Besitzer. Meine Ausstattung an Messern schärfe ich persönlich mit einem handelsüblichen Wetzstahl, der in jedem traditionellen Messerklotz zu finden ist. Echte Männer wenden sich bei dieser profanen Technik mit Grausen ab. Messerschärfen ist für sie eine Wissenschaft, die höchste Zuwendung und filigrane Handhabung verlangt. Dafür benötigt man einen leicht gewässerten Schleifstein aus speziellem Fels, einen exakten Anlagewinkel der Klinge von 14,5 Grad und eine feine Technik, in der man mit einem konstanten Drehmoment von 0,001 Newtonmetern in weichen, kreisenden Bewegungen – eine Klingenseite gegen den Uhrzeigersinn, die andere mit – der Schnittkante geduldig den gewünschten Schliff verleiht. Ganz perfektionistische Männer murmeln währenddessen noch Beschwörungsformeln der Samurais und richten sich dabei zum Sternzeichen des Krebses aus. Zerteilt die Klinge anschließend ein schlaff hängendes Blatt Papier wie ein Laserstrahl in zwei Teile, ist das Ergebnis wunschgemäß. Möglicherweise ist dieser männliche Ritus des Schleifens von Stahl ein Relikt aus den Zeiten der Schwerter und Degen, als von deren Schärfe noch Leben und Tod abhingen. Oder einfach nur eine Macke.

Vitale Zeiten

Man mag über Corona noch so schlecht reden oder denken wie man will, aber Clara hat sich in der Zeit in eine Katze verliebt, Lukas seine Freude am Kochen entdeckt, Katharina malt abstrakte Acrylbilder, Felix ist jetzt ein begeisterter Schachspieler, Martin hat seine alte Märklin-Eisenbahn wieder aufgebaut, Thomas backt Torten, Jens und Pia haben sich einen Schrebergarten gemietet und Ina und Jonas ihre Sexualität wiederbelebt. Für alle unfassbar, dass Kevin plötzlich mit dem Stricken anfing und Tina und Bastian endlich ihren Dachboden entrümpelt haben. Ich für mein Teil habe meine persönlichen Unterlagen gesichtet, geordnet und übersichtlich abgeheftet. Dabei bin ich auf die Idee gekommen, meine eigene Grabrede zu schreiben. Jeder sollte am Ende nämlich selber bestimmen was am Ende über ihn gesagt wird und nicht ein abgestumpfter Prediger von goodbye.de, der dich vielleicht noch in einem üblen Shitstorm verabschiedet. Wann wäre die Stimmung dafür bestens geeignet als im Coronafieber? Zur Einstimmung hab ich intensiv Zeitungen gelesen und Nachrichten gesehen, um gebührend drauf zu sein. Mich mir tot vorzustellen, fiel mir dann doch schwerer als ich dachte. Letztlich haben mir die sinkenden Inzidenzzahlen dann meine herrlich trübe Stimmung völlig verhagelt.

Autonummer

Ein Auto, mit denen man abseits der asphaltierten Straßen fahren konnte, gab es immer schon, es hieß „Jeep“. Anfangs fuhren die Amis damit an die Front, später kurvte man damit im Urlaub über die Sonneninseln – da hieß er „Wrangler“ oder kleiner „Suzuki“. Und dann erschien er, der SUV, und stürmte weltweit die Verkaufslisten. Hoch, breit, schwer und protzig. Nun waren auch Normalbürger in der Lage, damit Berghänge zu erklimmen, unwegsame Wälder zu erkunden und Furten zu durchqueren. Macht aber keine/r, dafür bringt die junge Mutti damit ihr Kind sicher in den Kindergarten und Männer rollen zur Bierverladung an die Rampe des Getränkemarktes.

Ältere Herrschaften lieben ihn besonders, weil man so bequem einsteigen kann. Am allermeisten lieben ihn die Autohersteller, die gefühlt nur noch SUV´s bauen und damit fette Gewinne einfahren. Was der Kunde mag, baut man. Egal, ob überhaupt noch Platz ist in unseren Städten oder Parkhäusern. Nichts gegen ein Auto, außen so klein, innen so groß wie möglich, komfortabel, sicher, sparsam im Verbrauch, großzügig im Laderaum. Eins, in das man nackenfreundlich einsteigen kann und höher sitzt, um einen besseren Überblick zu haben. Eine tolle Aufgabe für geniale Konstrukteure. Aber nein, die bauen lieber einen SUV-Zombie, der wie eine Outdoor-Walze auf dem Weg zur nächsten Testosteron-Tanke daherkommt. An der Tanksäule putzt dann Oma für Opa die Scheinwerfergalerie, damit er das Großwild besser sehen kann. Da draußen tobt der Wahnsinn. Aber ein Trost: Auf der Arche herrscht SUV-Verbot.

Alb-Tram

München. Ich sitze in der Tram zum Hauptbahnhof. Gerade sind alle eingestiegen, da stürzt im letzten Moment eine Familie heran. Mutter mit Kinderkarre und einem kleinem Mädchen drin, er mit schwerem Rucksack und Tasche. Er ist schon im Wagen, sie halb. Die Tür fängt an, sich zu schließen. Kurze Aufregung, sie schreit leicht panisch „Nein!“, er stellt den Fuß in die Tür, zieht den Kinderwagen rein – sie sind alle drin. Uff! Das war knapp. Der Stress rötet ihre Gesichter. Die Tram rumpelt los, sie sucht Halt, er lässt sich schnaufend auf einen freien Platz fallen. Das kleine Mädchen ist schon ziemlich groß, lappt mit den Beinen weit raus aus der Karre, will aber offenbar noch klein sein und jetzt vor allem raus. „Du steigst jetzt definitiv nicht aus!“, warnt die Mutter. Das versteht die Kleine definitiv als Aufforderung und steigt aus.

„Komm her“, sagt der Vater und nimmt sie zu sich auf den Schoß. So fühlt sich missglückte, erzieherische Einigkeit ein. Der Vater bespaßt seine Tochter, erklärt ihre jedes vorbeiziehende Verkehrszeichen und die Häuserfronten. „Schau mal, ein Nagelstudio.“ „Was is´n ein Nagelstudio?“ „Da lässt man sich die Nägel machen.“ „Warum?“ „Weil sie dann schön aussehen.“ „Ich hab Hunger.“ „Schatz, gibst du mal bitte die Laugenbrezel raus?“ „Ich hab Durst.“ „Schatz, und die Saftflasche, bitte.“ Sie steht indessen instabil zwischen Tür und Sitzen. Mit einer Hand hält sie sich, mit der anderen die Karre fest. Bei jeder Bewegung der Tram wirft es sie hin und her.

Ich kann das nicht mit ansehen, neben mir, auf meiner Bank, direkt ihr gegenüber, ist doch ein Platz frei. Nun tue ich etwas Ungeheuerliches. Keine Ahnung, was mich zu dieser Handlung bewogen hat, welche verkapselten, abgrundtiefen Gelüste sich da in mir Bahn brachen, ich – ein weißhaariger, vollreifer Herr – klopfe stumm mit meiner linken Hand auf den freien Platz und lächle ihr freundlich zu. Will sagen, setzen Sie sich doch zu mir, hier ist doch ein Platz frei, brauchen Sie sich nicht so zu quälen. Ich trage auch FFP-Maske. Ich spüre an ihrem entsetzten Blick sofort, Harvey Weinstein lässt grüßen. Oh, Gott, denke ich. Was hast du getan? Das war schändlich, Junge! An der nächsten Haltestelle steht schon ein Sondereinsatzkommando und verbringt dich zur Kastration. Am nächsten Tag lauter die BILD-Schlagzeile: „Schmutziger alter Witzzeichner belästigt junge Mutter!“ Aber ich komme noch mal davon.

Am Hauptbahnhof steigen wir alle aus und sie verschwinden hektisch im Getümmel. Ich höre noch die Kleine fragen: „Mama, wer war denn der weißhaarige Mann?“ „Das war ein alter Sexist.“

Häme ist geil

Ja, was lese ich denn da? Der MediaMarkt hängt in den Seilen? Er kämpft um seine Existenzberechtigung? Die Geschäfte laufen nicht mehr und die Kunden ihnen weg? MediaMarkt, sorry – das salbt meine alten Wunden. Damals – ihr erinnert euch? – als ihr diesen perversen Werbeclaim „Geiz ist geil“ auf den Markt geworfen habt, da gingen euch die Konsequenzen für die sonstige Wirtschaft am Arsch vorbei. Der Riesenerfolg eurer menschlichen Todsünde-Erweckungs-Kampagne hat euch glückstrunken gemacht. Der Deutsche fühlte nun seine krankhafte Raffgier, seine Jagd auf Schnäppchen und die Gier nach Mehr für Weniger, öffentlich abgesegnet und gepriesen.

Wie ein Vulkan der das ganze Land erfasste, brach nun der enthemmte Geiz mit aller Pracht im Kunden durch. „Billig“, „spottbillig“ und „noch billiger“ regierten nun nicht nur den Elektrohandel, sondern die gesamte Wirtschaft gleich mit. Den grafisch schreienden, billigen „Geiz ist geil“-Anzeigen und Plakaten konnte keiner mehr entkommen. Es wurde nun um jeden Preis gefeilscht und gehandelt und selbst bei privaten Geschäften versucht, den Preis zu drücken. Zum besseren Verständnis: es ist nicht geiler, mehr zu bezahlen als man sollte, aber asozial, einen Anbieter auszupressen, bis für den fast nix mehr drin ist und die Wertzunahme allein für sich einzusacken. Die in Stein geschlagene, ehrwürdige Kaufmannsregel lautet: Ein gutes Geschäft ist immer für beide gut.

Eine Oma aus meinem Dorf kam damals zu mir ins Haus, um ein Buch von mir zu kaufen. „Setz dich“ sagte ich, „und schaue dir erst mal an, ob es dir gefällt.“ Sie setzte sich, blätterte zehn Minuten in meinem Buch, bekam von mir sogar einen Kaffee und fragte dann: „Was soll es denn kosten?“ Ich antwortete: „Im Handel kostet es 9,- Euro, du bekommst es von mir für 6,- Euro.“ Sie schaute mich einen Moment an, überlegte und sagte dann: „5.- Euro!“ Ich hab sie rausgeschmissen. Tut mir leid“, sagte sie reuig, “aber man kann es doch wenigstens versuchen.“

Auch sie hatte die nackte Gier befallen. Und so rollte nun der gallige Geiz durchs Land und hat mir u.a. mit meinen Kalenderumsätzen bis heute einen unveränderbaren Einkommensverlust von 60% verursacht. Auch die Buchverlage merkten es bitterlich. Eigentlich jeder, der etwas zu verkaufen hatte. Und der MediaMarkt hat sich damals einen gefeixt, Containerschiffe mit Waschmaschinen und Fernseher verscherbelt und seine Hamburger Werbeagentur für diese geile Kampagne garantiert fürstlich bezahlt. Diese Agentur steht gewiss nicht auf billig.

Ich bin letzte Woche zu meinem Einzelhändler für Elektronik in den Nachbarort gefahren und habe mir einen neuen Fernseher gekauft. Wir haben eine Stunde Fernsehprogramme begutachtet, dabei Kaffee getrunken und geplauscht. Am nächsten Tag kam er mit dem Gerät, installierte und erklärte mir geduldig alles und ließ seine Telefonnummer da. „Sie können mich jederzeit anrufen, wenn Sie Fragen haben.“ Das hatte ich gleich am nächsten Tag. Ein kurzes, freundliches Gespräch, eine Erklärung, eine Lösung, danach: „Immer sehr gerne.“ Rabatt bekam ich übrigens auch. Einzelhandel ist geil!