Leere Worte

Ich habe sie gerade gefragt, was ihre Tochter macht, da sagt sie: „Es kann sein, dass mein Akku gleich….“ Und – zack! – sind wir getrennt. Einen Moment später ruft sie wieder an. „Hu-hu! Komme jetzt über mein Handy“, sagt sie fröhlich und fragt „Wo waren wir stehengeblieben?“ „Bei deinem Akku“, antworte ich. Sie lacht und meint, sie verstünde das nicht, erst gestern hätte sie den Akku ihres Festnetztelefons vollgeladen, auf der Ladeanzeige waren alle Striche aktiv.

„Das sagt gar nix“, sage ich souverän, „wenn du es ständig auf der Basis lässt, verliert der Akku an Kraft. Wird schlapp, wie wir, wenn wir nicht gefordert werden. Auch unsere Zellen müssen ja immer wieder frisch aktiviert werden, du verstehst?“ Sie ist spürbar beeindruckt. „Boah, jetzt wo du´s sagst“, antwortet sie nachdenklich.

Unbedarfte Menschen, besonders Frauen, wecken in mir den fürsorglichen Aufklärer, ich komme dann richtig in Fahrt und gebe erst auf, wenn ich mir sicher bin, dass sie mich verstanden haben. Ich hätte auch ein guter Lehrer werden können. „Alles hängt mit allem zusammen, weißt du?“, lege ich nach. Eine Prise Philosophie macht immer Eindruck. Sie schweigt überwältigt. So fühlt sich für mich gebannte Aufmerksamkeit gepaart mit Interesse an. Irre, wie gut ich das bei Menschen erreichen kann, denke ich nicht ohne Stolz.

Zum Schluss gebe ich ihr als Abrundung meiner Beratung noch – ganz wichtig – die Lösung, mit der sie zukünftig arbeiten kann: „Du musst das mobile Teil ab und zu mal von der Station nehmen, damit es sich komplett entleert, und sich dann wieder kraftvoll aufladen kann.“ Sie ist beeindruckt und findet, dass ich ja wohl tolle Ahnung von Technik habe und ein richtig praktischer Mann sei. Ich lasse ihre völlige Fehleinschätzung unwidersprochen stehen. „Öööhm….ach ja, ich wollte doch wissen, was macht eigentlich deine Tochter?“, wiederhole ich meine Frage, die ich ihr vor dem Kommunikationsabsturz gestellt hatte. Ich höre noch, wie sie „Clara? Also die studiert jetzt in Münster…“ sagt, da reißt unser Gespräch ab. Mein Akku ist leer.

Edelbitter

Mein Einkauf ist auf dem Laufband an der Kasse. Banane – Piep! – Blumenkohl – Piep! – Milch – Piep! – Nudeln – Piep! – diverse weitere Pieps werden von der Kassiererin über den Scanner gezogen. Sie lässt die eingescannten Artikel der Reihe nach zur Ablagefläche runterrutschen, wo ich sie in fließender Bewegung in Empfang nehme und in meinen Einkaufwagen lege.

Hä? – denke ich, was ist das denn? Eine Packung „Schwarze Herrenschokolade, Edelbitter, hauchdünn“? Hab ich nie gekauft. Ich hasse Edelbitterschokolade. „Täfelchen“, lese ich, ach wie süß. „Mit 60% Kakao“, steht auch noch drauf. Auch mit 100% Kakao, nein, nochmals nein! Also sage ich freundlich aber bestimmt: „Diese Edelbitterschokolade gehört aber nicht mir.“ „Lag aber bei Ihrem Einkauf“, antwortet die Kassiererin, eine muskulöse Blondine, mit der man sehr gerne friedlich auskommen möchte.

Ich blicke zurück zur Kundin, eine junge Frau hinter mir, sie hat nur zwei Kosmetikartikel auf dem Band und schaut weg. „Verzeihung“, rede ich sie an, „gehört die Schokoladentafel vielleicht Ihnen?“ „Mir?“, fragt sie verdutzt, „nein, würde ich niemals kaufen, ich hasse Edelbitterschokolade.“ „Aber irgendjemand muss mir doch diese Tafel in meinen Wagen gelegt haben?“, bemerke ich. „Wie meinen Sie das?“, fragt mich die junge Frau. „Nein, bitte, ich möchte Ihnen nichts unterstellen“, antworte ich, „aber vielleicht haben Sie das unbewusst getan?“ Sie starrt mich an. „Sie meinen, die Edelbitterschokolade aus der Kosmetikabteilung in meinen Wagen gelegt? Steht vielleicht „Gut für die Haut“ drauf?“, fragt sie spitz. „Schokolade befeuert positive Botenstoffe im Körper und die wiederum sind folglich auch gut für die Haut. Durchaus ein komplexer Zusammenhang. Also? Warum nicht? Ganz unbewusst?“, gebe ich zu bedenken. „Noch bin ich klaren Geistes, guter Mann“, antwortet sie scharf und ich denke kurz, woher weiß sie, dass ich ein guter Mann bin?

Inzwischen haben sich weitere Kunden in die Schlange vor der Kasse eingeordnet und fragen sich spürbar, warum es da vorne nicht weitergeht. Auch die Kassiererin wird ungeduldig. „Aber alle weiteren Artikel die Sie gekauft haben, sind so weit okay? Nur, damit ich mich entspannen kann“, sagt sie. „Alle wunderbar, nur diese Edelbittertafel nicht“, antworte ich „Die habe ich nun aber bereits eingegeben“, sagt sie mit frostigem Unterton. „Können Sie das nicht draußen weiter diskutieren?“, kommt eine Stimme aus der Schlange. „Möchte jemand von Ihnen vielleicht eine Tafel Edelbitterschokolade?“, rufe ich. Da meldet sich eine alte Oma aus der Schlange an der Kasse nebenan: „Ha! Sie haben meine Schokolade genommen? Unerhört! Ich wundere mich schon die ganze Zeit, wo denn die Tafel Edelbitter ist?“ „Sie stehlen alten Damen die Artikel aus dem Einkaufswagen?“, herrscht mich die Kassiererin an. „Und verleumden die Kundschaft“, ergänzte die junge Frau. „Polizei!“, keift jemand, da stürze ich schon fluchtartig nach draußen. „Wir wissen wo du wohnst!“, höre ich noch aus der Ferne.

omw

Cherry, die junge Tochter einer Bekannten aus meinem Ort, wollte sich etwas von mir abholen und per WhatsApp wissen, ob ich zu Hause sei. Ich antwortete ihr: „Ja, kannst kommen.“ Daraufhin sie: „omw“. Zugegeben, im Netzjargon bin ich nicht ganz perfekt, kenne aber sehr wohl „omg“, ein Akronym für „oh my god“, auf gut Deutsch „Oh mein Gott!“, ein Ausruf des Entzückens oder Entsetzens gleichermaßen. Wie oft hat man den selber schon im Leben ausgestoßen.

In jungen Jahren haben das angesichts meiner Person in Badehose die hübschesten Mädchen geschrien, allerdings weil ich so dünn war. „LoL“, korrekt „Laughing out Loud“, ist mir aus dem Netzjargon auch noch ein Begriff und bedeutet so viel wie „Ich lache laut“. Dieses LoL habe ich immer gerne gemocht, „omw“, wie gesagt, sagte mir aber erst mal gar nichts. Ich vermutete, Cherry wollte mir vielleicht „okay man, wonderful“ sagen?

Damit ich besser vorbereitet war, also cooler auf Cherrys Botschaft reagieren konnte, habe ich mich zeitgleich an Judith, die Freundin meines ältesten Sohnes gewandt, und sie gefragt, ob sie wüsste, was „omw“ bedeutet. Und „gsd“, also Gott sei Dank, antwortete sie mir auch sofort auf WhatsApp: „omw“ heißt „on my way“, schrieb sie. Aha! Cherry wollte mir also sagen, sie sei bereits unterwegs zu mir. Gut, hab ich wieder was gelernt. Und tatsächlich stand sie fünf Minuten später vor meiner Tür. „Wusstest du denn, was „omw“ bedeutet?“, fragte sie mich verschmitzt. Diese lästerliche Frage konnte ich, gut vorbereitet wie ich war, cool mit „Na, „on my way“, was sonst?“ kontern. Als ich dann noch breit grinsend „LoL“ sagte, war sie platt.

Als sie wieder fuhr, schickte ich ihr, so richtig auf den Geschmack gekommen, noch eine WhatsApp hinterher: „gwh“. Ich wusste nicht, ob sie wusste, dass ich damit „good way home“ meinte, nachgefragt hat sie jedenfalls nicht, sie wollte sich sicher keine Blöße geben. Übrigens, meinem zuständigen Finanzamt, das mich auf die unverzügliche Abgabe meiner Umsatzsteuererklärung hingewiesen hatte, habe ich gleich danach mit „LmaA“ geantwortet. Wenn sie beleidigt nachfragen, erkläre ich ihnen das gerne: „LmaA“ bedeutet „Love me as-soon as“, ein Akronym für „Liebt mich so bald wie möglich“. Na, da haben sie was zum Knabbern. Zeit haben sie ja.

Donnerwetter

Unvorstellbar, es gab mal Zeiten, da schaute man aus dem Fenster, checkte kurz die akute Wetterlage und verließ unbekümmert seine Wohnung. Regnete es, griff man sich einen Schirm oder eine Jacke mit Kapuze, regnete es nicht, ließ man das Wetter einfach auf sich zukommen.

Wetter, das war die launische Unbekannte, auf die man sowieso keinen Einfluss hatte, und über Dinge, die man nicht beeinflussen kann, muss man sich keine Gedanken machen. Punkt! Das lernte jeder Student im 1. Semester Psychologie. Manche hielten sich einen grünen Frosch im Glas, in dem sich eine kleine Leiter befand. Hüpfte der Frosch daran hoch, gab´s gutes Wetter, hockte er unten, blieb das Wetter schlecht. Eine solch tierquälerische Art der Wetterlagenermittlung mittels einer eingesperrten Amphibie, würde aktuell sofort den Einsatz eines Sonderkommandos von PETA zur Folge haben.

Zwar gibt es bis heute noch den Wetteronkel oder die Wettertante im Fernsehen, die uns pünktlich nach den Nachrichten wie ein Erdkundelehrer, anhand von bekritzelten Landkarten von freundlichen Hochs und grimmigen Tiefs künden, längst aber verfügt doch jeder über eine Wetter-App auf seinem Handy, ohne deren Information er niemals das Haus verlassen würde. Die ganz Cleveren haben sich „Regenradar“ runtergeladen und wissen genau, dass sie exakt zwischen einem klar erkennbaren Wolkenband im Zeitfenster zwischen 14:33 Uhr und 15:09 Uhr trocken zum Supermarkt hin – und zurückkommen. Gestern trat ich mit meinem Sohn aus dem Haus. „Es gibt gleich Regen“, sagte ich. „Bist sicher?“, fragte er. „Hab auf den Himmel geschaut.“ Seine Augen leuchteten. „Cool, die App will ich auch.“

Störfaktor Kind

Heute lag ihre Hochzeitseinladung in der Post. „Wir würden uns freuen, euch in der Stunde unserer größten Glücks an unserer Seite zu wissen“, las ich. Dann folgten Ort und Zeit und ganz unten stand dann noch etwas kleiner: „Auf das Mitbringen von Kindern bitten wir höflichst, wenn möglich zu verzichten.“

Das wollte ich doch noch etwas genauer wissen und rief bei den zukünftigen Eheleuten an. Felix erklärte mir, dass Manja und er absolut nichts, wirklich überhaupt nichts gegen Kinder hätten, aber überall müssten die ja nun wirklich nicht dabei sein. Sie hätten einfach keinen Bock darauf, sich während ihrer würdevollen Trauungszeremonie und der anschließenden Festlichkeit von ätzendem Kindergeschrei stören zu lassen.

Ich verstand, bekundete ihm mein tiefstes Mitgefühl und nutzte zugleich die Gelegenheit, ihn zu fragen, ob sie etwas dagegen hätten, wenn ich meine Kettensäge oder meinen Rasenmäher mitbringen würde? „Aber nein, was denkst du?“, antwortete Felix ganz empört, gegen natürliche Geräusche hätten sie selbstverständlich gar nichts einzuwenden, auch Motorsense, Kantenschleifer oder Moped seien für sie überhaupt kein Problem. „Und Handys?“, fragte ich. Felix schüttelte den Kopf und sagte: „Was für eine blöde Frage, Mann, die gehören doch längst dazu.“ Also konnte ich ihm noch die große Freude machen, ihm mitzuteilen, dass ich als Klingelton „Highway To Hell“ von AC-DC“ auf meinem Handy habe. „Herzlich willkommen!“, rief er begeistert.

Die Arbeit nicht erfunden

Für meine Eltern war ich einfach da. Ich war ihr Zweitgeborener und gehörte mit Fleisch und Blut in unsere Familie. Diese Selbstverständlichkeit hatte manchmal zur Folge, dass sie gar nicht mehr merkten, dass ich anwesend war.

Ich saß also jeden Abend mit ihnen am Tisch, um eine gemeinsame, warme Mahlzeit einzunehmen und hörte stumm zu, was sie alles erzählten. Meine Mutter sprach vom Seifenhändler, der seine Kundinnen politisch indoktrinierte („Die Russen kommen!“), mein Bruder von seinem Fahrrad („Je härter der Sattel, umso besser.“) und mein Vater aus seinem Berufsleben („Die Hübner hat´n Verhältnis mit dem Klingbeil.“). Keiner fragte mich nach meiner Lehrerin („Schönen Mund.“), es interessierte keine Sau.

Am Ende des Schuljahres würden sie ja alles sowieso auf meinem Zeugnis lesen. Als Familienoberhaupt stand meinem Vater auch die meiste Redezeit zur Verfügung und die nutzte er ausgiebig, um sich zum Thema „Arbeit“ auszulassen. Was ich sofort verstand: er war der einzige Mensch auf der Welt, der wirklich richtig arbeitete. Sein Bruder hingegen hatte die Arbeit nicht erfunden und sein Schwager wusste gar nicht, was Arbeit ist. Von seiner Schwester wollte er gar nicht reden, die war, als der liebe Gott die Arbeit verteilte, nämlich sofort auf die Toilette geflüchtet. Sämtliche Menschen, außer meinem Vater, drückten sich also vor der Arbeit. Was ich auch noch am Abendbrottisch begriff, war seine subjektive Selbstwahrnehmung. Gut, ich war noch klein, hatte aber zwei wache Augen und die hatten längst erkannt, dass mein Vater sich wahrlich nicht kaputt machte. Er war Steuerberater und arbeitete die halbe Woche zu Hause, wo es, wenn er Bilanzen machte, in der Wohnung mucksmäuschenstill sein musste und meine Mutter ihm auf Filzpantoffeln und demütig gebeugt ein Tellerchen mit Wurstscheiben neben seine Schreibmaschine schob.

An den anderen Tagen besuchte er seine Mandanten, die mir – als ich nach seinem Tode an seinem Grab stand – kondolierten und einhellig von ihm schwärmten: „So ein fröhlicher Mensch, er hatte immer Zeit für ein Schwätzchen mit Kaffee und Kuchen.“ Später drang noch an meine Ohren, dass Vaters Bruder der Ansicht war, mein Vater hatte die Arbeit nicht erfunden und der Schwager meinte, dass mein Vater gar nicht gewusst habe, was Arbeit sei. Meine Tante, also Vaters Schwester, hatte noch hinzugefügt, dass ihr Bruder, als der liebe Gott die Arbeit verteilt hatte, rechtzeitig aufs Klo geflüchtet war. Ich konnte förmlich hören, wie mein Vater sich im Grabe umdrehte.

Waldbühne 1965

Mit keinem Ereignis aus meinem Leben kann ich mehr punkten, als damit, dass ich mit meiner Band, den Team Beats Berlin, am 15. September 1965 im Vorprogramm des Auftritts der Rolling Stones in der Berliner Waldbühne gespielt habe.

Mit uns von der Partie damals noch die Rockets, die Rivets und Didi und die ABC-Boys. Ich weiß noch, wie ich kurz vor Beginn auf der dunklen Bühne zu meinem Schlagzeug gehuscht bin, um noch mal den Klang meiner Snaredrum zu checken. Ich glaub ich war nervös, wollte natürlich auch angeben. Einen kurzen Schlag machte ich nur und erhielt daraufhin aus 20.000 rockdurstigen Kehlen ein gewaltiges „Rooooaaaaarrrr!“. Nie wieder habe ich mit so wenig Einsatz einen so gigantischen Erfolg erzielt.

57 Jahre (!) später waren die Stones wieder da, jetzt am 3. August, im Gegensatz zu einst, lief dieses Mal alles sehr fröhlich und friedlich ab. 1965 haben die Zuschauer die Waldbühne verwüstet. „Eine Million Schaden“ titelten die Berliner Gazetten. In der Redaktion der Jugendzeitung, für die ich damals arbeitete, zerbrach man sich den Kopf über diese verstörende Gewaltbereitschaft einer neuen Jugendkultur, sah die Ursachen in der Gesellschaft und ihren sozialen Spannungen. Ich musste grinsen. Hätten sie mich mal gefragt, ich hätte ihnen für den Fall „Waldbühne“ eine simple Erklärung geben können, denn ich stand ja Backstage, hatte einen guten Überblick auf das Geschehen – und war Zeuge, wie plötzlich aus heiteren Himmel ein Typ – später nannte man solche Leute „Flitzer“ – quer über die Bühne schoss, fies hinterrücks Mick Jagger seine Jacke aus dem Händen riss, die er gerade über seinem Kopf geschwenkt hatte, und sich mit seiner Beute kopfüber in die Zuschauermenge warf. Dort stürzten sich die Fans wie Piranhas auf ein Stück Fleisch auf das Jäckchen und zerfetzten es.

Und Mick musste das hilflos mit ansehen. Vermutlich hatte er sich die Jacke gerade vorher noch in der Carneby Street gekauft oder es war ein Geschenk seiner Mutti? Wie auch immer, Tatsache ist, dass Mick darüber richtig böse wurde – man konnte es bis hinter die Bühne spüren – und nach Rache sann. Die bot sich ihm, als der letzten Titel gespielt war und die völlig begeisterten Zuschauer sich auf ein paar Zugaben freuten. Fickt euch ins Knie, hat Mick gedacht, nix da. Das Licht auf der Bühne ging aus und 20.000 Leute warteten darauf, dass es wieder anging und die Stones noch mal für ein, zwei Zugaben erschienen. Doch die Bühne blieb dunkel.

Die Stones waren längst über alle Berge, saßen schon in ihren Hotelzimmern, hatten ihre Groupies auf´m Schoß, soffen kaltes Bier und feixten sich einen, wenn sie an die 20.000 blöden Kraut-Gesichter dachten. Was dann kam, ist die Geschichte von Enttäuschung, Wut und Zerstörung. Das ist der wahre Hintergrund eines legendären, aus dem Ruder gelaufenen Rockkonzertes. So profan kann die Ursache für einen Gewaltausbruch sein. Aber das ist ja bei allen Kriegen nicht anders.

Geselliges, deutsches Zusammensein

War super, mit unseren sechs Freunden, wir hatten uns lange nicht mehr gesehen. Einfach mal wieder bei uns sitzen, essen, trinken und plaudern. Ina erzählte, wie sie eine Woche mit Corona flach lag, Kathrin sprach dann noch von den neuen Virenbedrohungen, von Affenpocken und der bedrohlichen Wiederkehr längst vergessener Seuchen.

Philipp thematisierte die aktuelle Weltwirtschaftslage und prognostizierte globale Armut und das Aussterben der Menschheit. Lenny meinte, angesichts der exorbitant steigenden Energiepreise würden sie Brennholz horten und sich mit warmen Fellen eindecken. Nicole machte sich unglaublich Sorgen vor Wassermangel und Hungersnot, sie hätten ihre Garage schon randvoll mit Konservendosen, Klopapier und Paletten mit Mineralwasserflaschen gestopft.

Ihr Nachbar hat ein großes Schlauchboot mit Außenbordmotor in seinem Schuppen deponiert, er sei also auf die steigenden Meeresspiegel bestens vorbereitet. Kathrin sprach dann noch gleich die Verseuchung der Meere an. Lenny plauderte von ihrem Harz-Urlaub und den kahlen, toten Wäldern. Ina wollte den Atommüll nicht unerwähnt lassen und die Vergiftung der Böden sollten wir bitteschön auch nicht vergessen, vom Bienensterben ganz zu schweigen, dann referierte sie noch über die sadistische Tierhaltung und das Aussterben ganzer Tierarten.

Tom, der Handwerker, konnte natürlich ausschweifend von der katastrophalen Lage im Bausektor berichten, von Materialengpässen, Wahnsinnspreisen und dem degenerierten Nachwuchs, der ohne Smartphone keinen Nagel mehr in die Wand schlagen kann. Aber vielleicht ist sowieso, angesichts des Ukrainekrieges und der atomaren Bedrohung, alles sinnlos, meinte er. Alle nickten. Philipp warf noch den Islam und die künftigen Glaubenskriege in den Ring, sprach von der Rache versklavter und ausgebeuteter Völker und Lenny mahnte mit erhobenen Zeigefinger: „Und die AfD nicht vergessen!“ Tom rief kurz „Diesel!“ und Kathrin „China!“.

Anschließend versammelten wir uns vor dem Fernseher und sahen noch im WDR bis 0.20 Uhr die Dokumentation: „Die größten Naturkatastrophen im Westen“. Beim Hinausgehen verteilte ich an die Gäste Antidepressiva und alle gingen vergnügt nach Hause. Das war mal wieder ein schöner Abend.

Tretmaschinen

Ein Traum, ein Traum. Wir alle lassen jetzt unsere Dreckschleudern in der Garage und fahren nur noch Fahrrad – sorry, Bikes. Andere Länder machen es uns längst vor, Holland, Dänemark, alle schwärmen von Kopenhagen, offenbar ein Paradies der verkehrspolitischen Eintracht. E-Bikes, Trike-Bikes, E-Enduros, Mountainbikes, E-Mountainbikes, Trekkingbikes, Fatbikes, SUV-Bikes, Kompakt-Bikes, Gravel-Bikes, City-Bikes, Urban-Bikes, am Angebot mangelt es uns Deutschen wahrlich nicht.

Täglich wirft die boomende Fahrradindustrie ihre Produkte auf den Markt, unsere Städte, Wälder, Berge füllen sich. Sie sind nun überall, Männer, Frauen, Väter, Mütter, allein oder mit Kindern, Kindergärtnerinnen mit vollen Cargo-Bikes, Boten auf Racing-Bikes, Menschen auf den Weg zur Arbeit, sogar gebrechliche Omis und Opis heizen jetzt voll durchgestylt mit wehenden weißen Haaren auf ihren E-Bikes mit 40 km/H an dir vorbei. Nur die faule Jugend rollt auf E-Scootern. Wie Heuschrecken erobern die Biker die Natur, pflügen durch Wiesen, sägen durch Wälder, grippen auf Berge und rauschen um Seen.

Dieses neue Miteinander an rollenden Zweirädern braucht allerdings Regeln, Verständnis, Rücksichtnahme. Aber nicht im Land der Freiheit-durch-Tempo-Liebenden. „Your City. Your Bike. Your Business.“ wirbt ein Hersteller für sein SUV-Bike. Der Spruch könnte von der Autoindustrie sein, er klingt nicht nach Harmonie, sondern nach „Platz da! Hier komm ich!“. Und so geht´s auch zu auf deutschen Fahrradwegen, auf Bürgersteigen und Straßen. Jeder gegen jeden, wie auf der A2. Teure Tretmaschinen gegen billige ALDI-Räder. Jung gegen Alt. Ampelleugner gegen Schilderspießer. Eilige gegen Gemütliche. Rollstuhlfahrer, Rollatorschieber, Fußgänger und Blinde sind die Letzten in der Hierarchie auf unseren Straßen, sind verhasste Schikanen und Beschimpfungsopfer. „Ich fick dich, du alte Drecksau“, rief letzte Woche im Originalton ein wutentbrannter Fußgänger in Passau einem E-Biker hinterher, der ihn klingelnd von der „Heiliggeistgasse“ gedrängt hatte, weil er sich nicht schnell genug bewegt hatte.

Jeder kennt doch inzwischen jemanden, der mit seinem Fahrrad schon mal schwer zu Schaden gekommen ist, Armbruch, Beinbruch, Schlüsselbeinbruch, Beckenbruch, Schädelbruch, da draußen wird gebrochen, dass es nur so knackt. Im schlimmsten Falle sogar gestorben. So wie eine alte Freundin von mir vor Wochen in Krefeld bei einem Unfall mit einem anderen Fahrradfahrer ums Leben gekommen ist. Neu auch ist der Strafbestand der „Radlerflucht“. Viele schuldige, radelnde Unfallverursacher hauen einfach blitzschnell und wendig ab – sind spurlos verschwunden. Kein Kennzeichen, keine Identifizierungsmöglichkeit, da möchte man ihnen doch gerne ein gebührendes „Ich fick dich, du alte Drecksau!“ hinterherrufen.

Auf der Strecke geblieben

Wenn du das liest und dich wiedererkennst, dann melde dich mal. Will wissen, wie es dir geht und wo du die letzten Jahrzehnte geblieben bist, aber vor allem: Wo damals? Du erinnerst dich? Wolltest von West-Berlin zu mir ins Bergische Land trampen. Handys gabs noch nicht, also konnte ich deine Anreise nicht verfolgen. Jedenfalls habe ich mich auf dich gefreut wie auf Weihnachten.

Du, ein Geschenk, eine klasse Frau, jung, schön, klug. Wir kannten uns flüchtig, du warst mit einem Freund von mir zusammen, aber dann nicht mehr. Also freie Bahn für eine neue Liebe. Genau die wollte ich für dich sein. Dass du zur Grenze bist, um einen Lift nach Westdeutschland zu bekommen, das hattest du mir noch am Morgen am Telefon erzählt. Danach habe ich alle Zimmer gesaugt, Staub gewischt, den Boden gewienert, das Bett frisch bezogen, Wein, Bier, Kerzen, Blumen und Leckereien gekauft, Essen vorbereitet, mich geduscht, rasiert, geföhnt und mir komplett saubere Klamotten angezogen. Sogar den Hund und die Katze habe ich gebürstet und gepudert.

Danach saßen wir alle drei auf dem Sofa und haben gewartet. In meiner Phantasie sah ich dich zügig vorankommen, ein so hübsches Mädchen steht nicht lange. Ab 17 Uhr lief meine Phantasie Amok. Gegen 19 Uhr fing ich an Fingernägel zu knabbern. Gegen 21 Uhr lief ich wie ein Raubtier im Käfig hin und her und wollte die Polizei anrufen. Gegen 23 Uhr war ich halb besoffen vor Sorge – aber auch vom vielen Kummerbier. Um Mitternacht bin ich mit Kater und Hund ins Bett. Die waren überglücklich, das durften sie nämlich sonst nie. Das Telefon auf meinem Nachtisch schwieg die ganze Nacht, auch am nächsten Morgen und auch am nächsten Tag – und alle weiteren.

Nur meine Mutter rief mal an. Ich hab dich nie wieder gesprochen. Jahre später erfuhr ich, dass du auf der Strecke zu einem Typen in eine Ente gestiegen bist und mit ihm direkt weiter nach Paris. Es muss voll gefunkt haben. Gegen Paris war ich natürlich chancenlos. Erzähl mir, bitte? War er die große Liebe? Hast du ihn geheiratet? Mit ihm in Paris eine 2CV-Werkstatt, ein Café, einen Salon eröffnet? Hattest mit ihm Kinder? Bist reich und glücklich geworden? Oder arm und verbittert? Hat er dich geliebt oder geschlagen? Dich gar ermordet? Dann bist du entschuldigt.