Geschmacksache

Einen Mann wie meinen Freund Rainer, hätte Karl Lagerfeld persönlich erschossen. Nun war Karl der Große ja auch eine modische Ikone, Gottvater des geschneiderten Fadens. Ich würde zu gerne dabei sein, wenn Rainer morgens vor seinem Kleiderschrank steht und darüber nachdenkt, was er anzieht. Was geht da in seinem Kopf vor? In welchem verrückten, neuronalen Prozess entwickelt sich seine Entscheidung für die Wahl seiner Kleidungsstücke? Ist es ein Spiel? Entscheidet er sich mit verbundenen Augen? Das Resultat ist auf jeden Fall grauenvoll, mit tödlicher Sicherheit schreit jeder, der nur über einen Hauch von Geschmack verfügt: „Nein!!!“ Nicht Rainer. Er ist völlig schmerzfrei, greift zu und zieht an, was seine Hand gerade erwischt. Ein Beleg schlimmster Unterwerfung, dass seine Extremitäten nicht den Mut haben, sich solchen Stoffen zu verweigern. Wir alten Freunde haben längst aufgegeben und wundern uns über keine seiner Scheidungen mehr. Nur eine Blinde würde es länger mit Rainer aushalten. Unvergesslich, als wir mit unserer Clique nach Schweden in ein Haus am See gereist sind. Am ersten Morgen ging Rainer in einer gestrickten Badehose baden, die Fotos davon liegen sicher in einem Stahltresor.

Ich persönlich habe Zeit meines Lebens ein Faible für Karos, vermutlich bin ich schon kariert auf die Welt gekommen. Kombiniert mit einer Jeans war ich stilistisch damit immer auf der sicheren Seite. Holzfäller-Look ist wohl nicht jedermann/fraus Sache, auf jeden Fall aber zeitlos und Bäume gibt´s immer. Im Bewusstsein meiner modischen Solidität hatte ich gestern eine Fußbekleidungsfrage zu lösen. Solche sporadischen Unsicherheiten kommen immer mal wieder vor, jeder kennt sie: Welche Socke passt zu diesem Schuh? Randvoll mit Scham und Schuld muss ich beichten: es ging um Sandalen. Solcherart Fußbekleidung, die wir von Jesus und Ben Hur kennen, das Sommerfußleder und nationale Identifizierungsmerkmal aller deutschen Männer im Ausland. Aber verdammt, dieses Teil ist einfach so bequem, sogar meine Riesenfüße stoßen darin nirgendwo an.

Genau aus diesem Grund besitze ich ein Paar Sandalen und trage sie eigentlich nur in mondlosen Nächten, in diesem Moment aber, auch wegen der sommerlichen Hitze, wollte ich meinen Füßen ausnahmsweise tagsüber mehr Luft gönnen. Warum ich sie aber noch in Socken stecken musste, kann ich eigentlich nur damit erklären, dass ich keine schönen Füße habe. Finde ich jedenfalls. Kurzum, ich entschied mich, trotz leichten Unbehagens, für weiße Socken. Offenbar hatte ich in diesem Moment die Kontrolle über mein Leben verloren. Als ich damit auf die Straße trat, hatte ich das Gefühl, alle Menschen tuschelten und starrten auf meine Füße. Ich schlich mich im Schatten der Hauswände zu meinem Lieblingscafé. Es war rappelvoll, alle Tische vor der Tür waren dicht besetzt. Mittendrin Anton, der homosexuelle Wirt, ein feiner Mensch, der mit der Ausstattung und dem kulinarischen Angebot seiner Restauration einen Beweis kultiviertester Stilsicherheit und erlesenen Geschmacks dokumentiert hat. Sein Blick auf meine Füße wird mir unvergessen bleiben. In seinem Gesicht las ich blanke Abscheu, sowie aufsteigende Übelkeit und einen massiven Absturz seiner Wertschätzung mir gegenüber. So viel Zeche kann ich zu Lebzeiten gar nicht mehr bei ihm machen, um meinen Ruf wieder herzustellen.