Schande Mann

Eine alte Freundin schrieb mir, ihre Ehe sei zerbrochen, ihr Mann war nicht mehr zu ertragen. Despotisch und stumpfsinnig. Ich war erschüttert. Beim Spaziergang traf ich eine Frau mit einem Hund. Kenne sie nur von unseren gelegentlichen Begegnungen und frage freundlich nach, wie es denn ihrem sympathischen Mann ginge, der sonst immer mit dabei war. Wir sind getrennt, sagt sie, genug ist genug. Er möge verrecken. Sie hätte jetzt von Männern gründlich die Schnauze voll. Ich war sprachlos. Und dann auf Facebook, Ulrike die Gute postete ein zertrampeltes Foto von ihrem Benno. „Fahr zur Hölle!“, stand drunter. Ich konnte es kaum fassen. Gestern kam Lea zu Besuch. Im Laufe des Gespräches fragte ich sie fröhlich nach Jens. „Jens?“, fauchte sie, „Toxisch, hoch toxisch“. Sie hätte sich von diesem Bastard befreit und konzentriere sich jetzt mit allen Sinnen auf ihre Weiblichkeit. Ich gehe ab morgen nur noch als Frau verkleidet auf die Straße.

Geschmacksache

Einen Mann wie meinen Freund Rainer, hätte Karl Lagerfeld persönlich erschossen. Nun war Karl der Große ja auch eine modische Ikone, Gottvater des geschneiderten Fadens. Ich würde zu gerne dabei sein, wenn Rainer morgens vor seinem Kleiderschrank steht und darüber nachdenkt, was er anzieht. Was geht da in seinem Kopf vor? In welchem verrückten, neuronalen Prozess entwickelt sich seine Entscheidung für die Wahl seiner Kleidungsstücke? Ist es ein Spiel? Entscheidet er sich mit verbundenen Augen? Das Resultat ist auf jeden Fall grauenvoll, mit tödlicher Sicherheit schreit jeder, der nur über einen Hauch von Geschmack verfügt: „Nein!!!“ Nicht Rainer. Er ist völlig schmerzfrei, greift zu und zieht an, was seine Hand gerade erwischt. Ein Beleg schlimmster Unterwerfung, dass seine Extremitäten nicht den Mut haben, sich solchen Stoffen zu verweigern. Wir alten Freunde haben längst aufgegeben und wundern uns über keine seiner Scheidungen mehr. Nur eine Blinde würde es länger mit Rainer aushalten. Unvergesslich, als wir mit unserer Clique nach Schweden in ein Haus am See gereist sind. Am ersten Morgen ging Rainer in einer gestrickten Badehose baden, die Fotos davon liegen sicher in einem Stahltresor.

Ich persönlich habe Zeit meines Lebens ein Faible für Karos, vermutlich bin ich schon kariert auf die Welt gekommen. Kombiniert mit einer Jeans war ich stilistisch damit immer auf der sicheren Seite. Holzfäller-Look ist wohl nicht jedermann/fraus Sache, auf jeden Fall aber zeitlos und Bäume gibt´s immer. Im Bewusstsein meiner modischen Solidität hatte ich gestern eine Fußbekleidungsfrage zu lösen. Solche sporadischen Unsicherheiten kommen immer mal wieder vor, jeder kennt sie: Welche Socke passt zu diesem Schuh? Randvoll mit Scham und Schuld muss ich beichten: es ging um Sandalen. Solcherart Fußbekleidung, die wir von Jesus und Ben Hur kennen, das Sommerfußleder und nationale Identifizierungsmerkmal aller deutschen Männer im Ausland. Aber verdammt, dieses Teil ist einfach so bequem, sogar meine Riesenfüße stoßen darin nirgendwo an.

Genau aus diesem Grund besitze ich ein Paar Sandalen und trage sie eigentlich nur in mondlosen Nächten, in diesem Moment aber, auch wegen der sommerlichen Hitze, wollte ich meinen Füßen ausnahmsweise tagsüber mehr Luft gönnen. Warum ich sie aber noch in Socken stecken musste, kann ich eigentlich nur damit erklären, dass ich keine schönen Füße habe. Finde ich jedenfalls. Kurzum, ich entschied mich, trotz leichten Unbehagens, für weiße Socken. Offenbar hatte ich in diesem Moment die Kontrolle über mein Leben verloren. Als ich damit auf die Straße trat, hatte ich das Gefühl, alle Menschen tuschelten und starrten auf meine Füße. Ich schlich mich im Schatten der Hauswände zu meinem Lieblingscafé. Es war rappelvoll, alle Tische vor der Tür waren dicht besetzt. Mittendrin Anton, der homosexuelle Wirt, ein feiner Mensch, der mit der Ausstattung und dem kulinarischen Angebot seiner Restauration einen Beweis kultiviertester Stilsicherheit und erlesenen Geschmacks dokumentiert hat. Sein Blick auf meine Füße wird mir unvergessen bleiben. In seinem Gesicht las ich blanke Abscheu, sowie aufsteigende Übelkeit und einen massiven Absturz seiner Wertschätzung mir gegenüber. So viel Zeche kann ich zu Lebzeiten gar nicht mehr bei ihm machen, um meinen Ruf wieder herzustellen.

Verlassen

Worst Case Szenario: mein Internetzugang streikt. Vor einer Stunde noch war ich drin, nun diese rote Warnlampe an meiner Fritz Box.

Heißt, ich bin draußen, ein Ausgestoßener aus dem digitalen Paradies. Ich tue, was ich gelernt habe: Stecker ziehen, dreißig Sekunden warten – und wieder rein. Das berühmte Reset. Normalerweise funktioniert das, aber nicht heute. Warum elektronische Bauteilchen plötzlich den Wunsch verspüren, dich zu ärgern – ich verstehe das nicht. Aber ich verstehe ja vieles nicht. Also ziehe ich alle Stecker raus, die sich im Raum befinden. Ein Versuch. Nix. Ich stelle nebenbei fest, dass auch mein Telefon nicht mehr funktioniert. Aha! Man hat sich gegen mich verschworen. Wahrscheinlich die Achse Merkel-Schwan-Drosten-Gates.

Ich rufe über mein Handy einige Nachbarn an, ob sie gleiche Boshaftigkeit erfahren. „Nö, bei uns ist alles in Ordnung.“ Warum klingt das immer so ein klein wenig hämisch? Ich ziehe noch mal alle Stecker raus, sogar den von der elektrischen Zahnbürste und dem Nasenhaarschneider. Ein Versuch. Ohne Erfolg. Da sitze ich nun, schlagartig arbeitslos. Mein elektronisches Zeichentablett ist schwarz wie die Nacht. Tot. Es gibt Schlimmeres, sage ich mir und gehe raus an die frische Luft, bisschen spazieren, aber in meinem Kopf dreht sich alles um dieses Problem. Er wird nicht frei. Wieder zurück, kontaktiere ich einen örtlichen Fachmann. Er rät mir, mal den Stecker zu ziehen und drei Minuten zu warten. Ziehen kenne ich, drei Minuten sind mir neu. Also daran liegt es, ich muss der Technik mehr Zeit lassen zur Erholung. Ich ziehe also wiederum die Stecker und zähle bis 180. Und? Nix. Ich rufe noch mal den Fachmann an. Er ruft mal bei meinem Anbieter an, sagt er. Mir ist das recht, denn bei technischen Fragen stelle ich mich generell gerne blöd an.

Der Anbieter weiß nichts von einer Störung in meinem Bereich, nein, alles okay. Schade. Ich spüle also das erstaunte Geschirr, räume einen entsetzten Schrank auf, putze meine verschreckten Schuhe und die verstörten Fenster, schneide mir die verdutzten Fußnägel und koche mir anschließend Spaghetti. Hab ja Zeit. Ab und zu besuche ich meinen trostlosen Arbeitsplatz und rede mit ihm über die guten alten Zeiten. Gegen 16:30 Uhr halte ich es nicht mehr aus, ich rufe – persönlich! – bei meinem Internetversorger an. In der Warteschleife esse ich einen Obstsalat und lasse mir von einer sanftmütigen, mich um Geduld bittenden Frauenstimme die Ohren spülen. Dann endlich: „Guten Tag, mein Name ist Melanie, was kann ich für Sie tun?“ Ich danke Gott und Melanie und klage ihr mein Leid. Sie ist freundlich und warmherzig, macht meinen Kummer zu ihren. Ich würde jetzt gerne meinen Kopf auf ihre starke Schulter legen. „Na, dann schaue ich mal nach ihrem Anschluss“, sagt sie fürsorglich und vermittelt mir ein mütterliches Gefühl von Geborgenheit. Stille. Sie schaut. Ich warte und stoße säuerlichen Apfelgeschmack auf. Dann höre ich sie einen erstaunlichen Satz sagen: „Ich sehe gerade, wir haben heute Vormittag bei Ihnen was umgestellt.“

Er hallt lange in mir nach. „Und warum hat man mich nicht vorher davon informiert?“ möchte ich formulieren, werde aber meine Mutti nicht mit patzigen Fragen verletzen, niemals. Sie führt mich weiter einfühlsam wie einen Blinden durch diverse Menüs, bleibt auch bei meinen blödesten Fragen und Kommentaren geduldig und wartet sogar endlose Minuten, die ich benötige, um in meinem Chaos ein Passwort zu finden. Dann ist es so weit, ich bin wieder drin, ich gehöre wieder dazu! Ich sage: „Ich liebe Sie.“ Sie mich auch, meint sie. Wir trennen uns schweren Herzens, weil sie leider Feierabend machen muss. Im Überschwang meines Glückes bestelle ich mir anschließend bei Amazon schwarze Herrensocken, Größe 44/46, im Dreierpack. Bestimmt von minderjährigen Chinesen gestrickt. Scheiß drauf, man muss sich auch mal was gönnen.

App-App, Hurra!

Danke, App! Mit dir ist das Leben jetzt so viel leichter. Du sagst mir, was ich falsch oder richtig mache, warnst mich vor Schnee, Regen und Wind, vor Kranken und geistig Armen, vor Blitzern und Blendern. Ein Freund von mir hatte letztens ein Date mit einer Frau, die auf ihrem Instergram-Account aussah wie Kirsten Dunst, in der Realität allerdings wie Cindy aus Marzahn. Mit meiner Dating-Warn-App wäre ihm das nicht passiert. Du gibst einfach ihren Namen ein und in Stichworten, was sie dir alles von sich erzählt hat, z.B. Aussehen, Maße, Charaktereigenschaften, Vorlieben, Talente und Sehnsüchte. In wenigen Sekunden erscheint das Ergebnis in Farbe. Rot heißt: Hände weg, Gelb: Unter Vorbehalt. Blau: Sie trinkt. Grün: Sie ist es! Mein Freund hat sich die App sofort runtergeladen, damit er beim nächsten Date besser vorbereitet ist. Ich wies ihn allerdings darauf hin, dass Frauen diese App auch nutzen, so weiß seine Kandidatin z.B. gleich, dass er schnell beleidigt ist.

Breit ist geil

Ich habe den Eindruck, die Straßen in meinem Dorf werden immer schmaler. Anfangs dachte ich, das wären die Folgen des vielen Regens und erkundigte mich bei der hiesigen Straßenmeisterei, ob es möglich sei, dass nasser Asphalt schrumpft. Man ließ mich mit meiner Frage verdächtig lange in der Leitung schmoren. Endlich wurde ich verbunden und sollte die Frage noch mal wiederholen. Anschließend fragte mich der Fachmann misstrauisch, ob ich von irgendeiner Witzsendung aus dem Fernsehen käme? Ich sei doch nicht Wigald Boning oder so? „Nein, bin ich nicht.“ Er meinte, so eine saublöde Frage hätte er noch nie gehört und legte auf. Ich rief anschließend den Bürgermeister an, um ihn zu fragen, ob in letzter Zeit heimlich irgendwelche Straßenverkleinerungsmaßnahmen gelaufen seien, denn es passiere mir immer häufiger, dass ich im Dorf bei der Begegnung mit entgegenkommenden Fahrzeugen ins Bankett fahren muss, weil wir uns sonst die Spiegel abrasieren. Nein, er hätte nichts veranlasst, antwortete er, „aber vielleicht werden die Autos immer breiter?“ Verrückt, dass ich darauf nicht selber gekommen bin.

TV-Blutprogramm vom 16.- 22.1.2021 (auszugsweise)

Bauarbeiter finden eine verweste Leiche im Haus (ARD). Bauarbeiter erschlagen aufgefunden (DAS ERSTE). Brutaler Mord in der Schwulenszene (WDR). Eine Prostituierte wird tot aus dem Hamburger Hafen gezogen (ZDF NEO). Ein Gemüsehändler wird erwürgt (S1 GOLD). Eine Lokaljournalistin wird ermordet (ZDF). Unter einem Brunnen entdeckt man zwölf Skelette (SRTL). In einem kleinen Ort werden übel zugerichtete Leichen angespült (SIXX). Greisin in den Tod gespritzt (ZDF NEO). In einem alten Bunker kommt ein Junge ums Leben (WDR). Die Suche nach dem Mörder der schwangeren Schülerin (NDR.) Ein Zwölfjähriger hat eine ehemalige Prostituierte ermordet (BR). Am hellen Tag wird in Portland eine junge Frau erstochen. (SRTL). Anita wird in einer Bank ausgeraubt, vergewaltigt und ermordet (RBB). Der Betreiber einer Golfanlage wird erschlagen aufgefunden (ZDF). Wer hat Annika die Kellertreppe runtergestoßen? (ZDF). Die sterblichen Überreste einer jungen Frau wurden nach einem Blitzschlag in der Gegend verteilt (VOX). Mörderische Dorfgemeinschaft (MDR). Zwei Fischer entdecken die Leiche einer jungen Frau in einem Boot (RBB). Ein grauenvoller Mord ruft Alice Avril auf den Plan (ONE). In einem eingeschneiten Hotel liegt eine Leiche in einem Zimmer (ARTE). Promisternchen Nicci stirbt an einem Stromschlag, ausgelöst durch einen Gesichtsbräuner, den jemand ins Badewasser warf (HR). Auf einer Rastplatztoilette wird die verstümmelte Leiche einer Frau gefunden (SAT.1). Mord an einer schwer misshandelten 16-jährigen (DAS ERSTE). Grausiger Leichenfund auf einem Ananasfeld (KABEL EINS). Die strenggläubige Ann wird von einem Mitglied ihrer Kirche vergewaltigt (VOX). Ritualmord an einer Glöcknerin (ZDF NEO). Ein Mitarbeiter entdeckt in einem Lagerraum die verwesenden Überreste einer Frau (S1 GOLD).
Gute Unterhaltung!!

Aber sicher

Ich erinnere mich noch, als man sich SMS (Short Message Service) schickte. Damit kam das schnelle Wort in Mode, einfach mal kurz „Hallo!“ oder „Lebe wohl“ sagen, oder „Wie geht´s? oder „Kannst mir was borgen?“ fragen. Bilder oder Filmchen zu schicken kostete noch Speicher und Zeit. Dann kam plötzlich „WhatsApp“ und nun brachen die Dämme. Jetzt bekam man im garstig-heimischen Winter Urlaubsfotos vom Strand in der Dominikanischen Republik, Bilder vom gelungenen Schweinebraten, die launige Festrede zu Muttis runden Geburtstag und jede Menge lustige Filmchen aus aller Welt. Ein Bekannter aus Süddeutschland schickte mal ein Video mit seiner speisenden Familie. Man hörte nur Gabeln und Messer klappern und genüssliches Schmatzen. Minutenlang. In diese interaktive Idylle platzte eines Tages die hässliche Information, dass WhatsApp „nicht sicher“ sei. Mich persönlich verschreckt das nicht, ist mir doch hundertprozentig klar, dass Bill Gates und Marc Zuckerberg längst gecheckt haben, dass ich Schuppenshampoo benutze und heimlich im Stehen pinkle. Jüngst, in einem Artikel in der FAZ, fand ich zudem noch bestätigt: „Zweistellige Milliardenschäden durch Hacker. Es gibt keine absolute Sicherheit im Netz.“ Meine Freunde wechselten zu THREEMA, ich wechselte mit. THREEMA, so hieß es, sei sicherer. Nun kommunizierten wir auf der Schiene munter weiter. Gerade hatte ich mich entspannt, da hieß es, THREEMA sei nicht mehr sicher, TELEGRAM sei besser – ich solle unbedingt dorthin wechseln. Kaum hatte ich das getan, erreichte mich die Hiobsbotschaft, TELEGRAM sei nicht mehr sicher, auch Jan Böhmermann meinte das öffentlich und empfahl SIGNAL. Ich werde nun wohl zu SIGNAL wechseln. Sollte sich herausstellen, dass auch diese App meine Privatsphäre nicht vor digitalen Spannern schützt, so bekam ich schon einen Tipp von einem Insider: der innovativste Knaller auf dem globalen Kurznachrichtendienstmarkt hieße BRIEF, und zwar handgeschrieben, auf PAPIER! Wahnsinn! Die Entwicklung kennt keine Grenzen.

Brot und Quizshow

Was ist die Volksdroge Nummer Eins? Zucker? Falsch. Alkohol? Falsch. Sex? Ganz falsch. Die Antwort ist: Unterhaltung. Schon die alten Römer kannten das Volksablenkungskonzept „Brot und Spiele“. Gebt ihnen ein leckeres Ciabatte und einen Platz im Kolosseum, schon sind sie glücklich und regen sich nur noch auf, wenn es nicht spannend genug ist. 1900 Jahre später haben wir dafür Fußballstadien, aber der größte Spielplatz ist das Fernsehen. Dort werden ständig „Superstars“, „Supermodels“, „Superdancer“, „Superköche“ oder „Supersportler“ gekürt, fressen angeschimmelte Promis im Dschungelcamp Raupen, baggern in Kuppelshows Bachelors unverhohlen um willige Weibchen oder Bacheloretten um scharfe Männchen, suchen einsame Bauern ein Schweinchen und Bäuerinnen die richtige Sau. Die Kamera begleitet alle, Auswanderer und Einwanderer, auch Gerichtsvollzieher und Kammerjäger, Zivilstreifen und Rollkommandos, Goldsucher und Erbschleicher, Häuslebauer und Nestbeschmutzer, Zuhälter und Geheimdienstler, chronisch Verstopfte und latent Inkontinierte, Schwanzvergrößerer und Magenverkleinerer, filmt Operationen, Geburten, Unfälle, Tote, Halbtote, Taubenzüchter, Hundetrainer, Bodytrainer, kraucht in die dunkelsten Nischen unserer Gesellschaft, filmt Alkoholiker, Adipöse, Magersüchtige, Depressive, Drogenabhängige, Harzvierer, Minijobber, Schwarzarbeiter, Heimbewohner, all die Außenseiter, Verlierer, Verlorenen und Abgeschobenen unserer Gesellschaft.

Auf der Suche nach immer neuem Futter für die ablenkungshungrige Masse sind längst alle Tabus gefallen, ist jede Scham und Würde verloren gegangen, haben Voyeurismus und Häme Einzug gehalten, erschaudern die Zuschauer vor dem Blick in die Leprakolonie und sind froh, dass sie noch alle Finger haben, mit denen sie auf sie zeigen können. Unser Fernsehen ist ein abgrundtiefer Schlund medialer Verkommenheit. Aktuell boomen Quizshows auf allen Kanälen. Alle Moderatoren/innen die leidlich vorlesen können, moderieren eine. Als Kandidaten/innen fungieren dominant das rastlos von Studio zu Studio springende Rate-Pack: Günter Jauch, Barbara Schöneberger, Thomas Gottschalk. Bereit? Dann hier die Frage: Wofür halten die deutschen Fernsehsender ihre Zuschauer? 1. Für Einzeller, 2. Für Affen, 3. Für Simpel, 4. Für evolutionären Schrott. Bis zu vier Antworten sind richtig. Nächste Woche „Sodom und Gomorrha“: das Internet.

Fliegende Pfeile

Sportler/innen sind in der Regel durchtrainierte Athleten, muskulös und sehnig, kein Gramm Fett zu viel, Figuren wie aus Marmor geschlagen. Nur so sind sie in der Lage, ihre Leistungen abzurufen, Weltrekorde zu laufen, zu springen, zu fahren, zu fliegen, Tore zu schießen oder zu werfen. Aber es gibt eine Sportart, geboren im Mix von Tabakqualm und Bierschaum der englischen Pubs, in der es von hässlichen, fetten Männern nur so wimmelt. Große oder kleine Kerle mit Bierbäuchen, Doppelkinn oder Brille, mit Irokesenschnitt und Tattoos: Darts! Solche herrliche Typen stehen dann bei ihren Wettbewerben auf einer Bühne und werfen mit koketter Fingerhaltung und unfassbarer Präzision hochkonzentriert drei kleine Pfeile auf eine Scheibe – und das, obwohl in ihrem Rücken eine selig besoffene Masse von lustig kostümierten Zuschauern permanent lärmt und bei jedem gelungenen Wurf tobt und gröhlt. Ruft der glatzköpfige Sprecher, der direkt neben der Scheibe steht und blitzschnell die drei Würfe addiert, mit seiner vom Alkohol geschmirgelten Stimme die drei Supertreffer „One hundred and eiiiiiiiiiighty!“ in sein Mikrofon, dann rollt ein Orkan der Begeisterung durch die Menge. Letztes Wochenende war das Finale der Weltmeisterschaft, Preisgeld für den Gewinner: 500.000 Pfund! Erkämpft hat sie sich der Waliser Gerwyn Price, Ex-Rugbyspieler und Türsteher. Ich liebe Darts.

Schöne Bescherung

Um den Tannenbaum lag dieses Jahr weniger als sonst. Ist doch klar, es fehlten ja drei Haushalte und der Weihnachtsmann durfte als Mitglied einer Risikogruppe auch leider nicht dabei sein. Die Nordmanntanne war mit Coronakugeln und kleinen, maskierten Engelchen geschmückt und schimmerte festlich. Um 18:47 Uhr brachte ein Kurierfahrer noch die letzten drei Amazon-Pakete, dann endlich konnte die Bescherung losgehen. Eingeleitet wurde sie von der kleine Coco mit dem Quarantäne-Gedicht „Markt und Straßen steh´n verlassen, alles sieht so ängstlich aus. Ach, was für eine Freude. Harald bekam die gesamte Staffel von „Der Herr der Viren“ mit Christian Drosten und Tante Katja einen neuen Aluhut. Über den prächtigen Bildband „Die großen Pandemien“ und die Büste von Jens Spahn freute sich Mutti riesig und Onkel Karl war begeistert als wir ihm den Fotokalender „Karl Lauterbach in Talkshows“ überreichten.

Große Freude herrschte bei Rolf und Ida über die Palette Klopapier und der brandneuen CD „Sweet Home“ von den Lockdown-Singers. Julia bekam ihr gewünschtes 5000er-Puzzle „Markus Söder“ und die Kinder spielten gleich mit ihren neuen Viren-Warn-Apps und den Teststäbchen. Auch die geliebten Nachbarn schauten öfters von draußen ins Fenster, um unsere Einhaltung der Corona-Regelungen zu kontrollieren und Oma und Opa wedelten aus ihrer Isolierkammer glücklich mit ihren Gutscheinen für zwei Corona-Impfungen. Ansonsten war es ein ganz normales Weihnachtsfest.