Vernissage

Charlotte lädt zur Vernissage. Montag, 18 Uhr, für Getränke und Häppchen ist gesorgt. Ich plane diesen Termin ein, bette ihn zwischen Arbeitsende und Sofa. Schnell geduscht, frisches Hemd und Deo. Im Auto noch mal auf WhatsApp die Einladung gelesen: Montag, 16 Uhr in Oeversee im Akademieweg 6. Na, toll. 16 Uhr nicht 18 Uhr, Butschkow, du Trottel. Aber die 6 und die 8 sind sich optisch sehr verwandt, entschuldige ich mich selber.

Wenn ich bisschen Tempo mache, bin ich pünktlich um 18 Uhr zu den Abschiedsworten da, vielleicht ist noch ein Fischbrötchen übrig und die Künstlerin versöhnungsfähig. Ich gebe die Adresse in meinen Bordcomputer ein und bin schon auf der Straße. Gegen 17:45 Uhr nähere ich mich meinem Ziel. Frau Navi meint, ich soll jetzt weiter geradeaus fahren, mach ich aber nicht, ich biege lieber rechts ab und folge ganz traditionell, so wie früher, einem offiziellen Hinweisschild nach „Oeversee“. Madame schweigt verdutzt. Ich liebte es schon immer, Frauen mit unerwarteten Handlungen zu verwirren. Endlich hat sie begriffen: „Bitte vier Kilometer geradeaus.“ Nach drei Kilometern ist die Straße wegen Bauarbeiten komplett gesperrt. Na bravo. Ich biege scharf links ab und warte auf neue Instruktionen – und endlich kommen sie: „Hundert Meter halb rechts…nach fünfzig Metern rechts….links…rechts…halb rechts…scharf links…geradeaus…nach hundert Metern…“

Ich durchquere Wohnsiedlungen, Bauernhöfe, passiere Kreuzungen, kleine Brücken, folge brav ihrem „Bitte wenden“, erreiche manche Stellen zum zweiten, mitunter zum dritten Mal, erkenne inzwischen Häuser, Gärten und Garagen wieder, sogar Menschen, die langsam auf mich aufmerksam geworden sind und mir ein fröhliches „Moin-Moin!“ zuwinken. Jetzt wäre die Chance neue Freundschaften zu schließen, aber ich muss dringend zu Charlotte.

Es ist bereits 18:35 Uhr und ich kreise, irgendwo im Nirgendwo, irregeleitet von einer digitalen Leitwölfin um einen imaginären Veranstaltungsort und verfahre flüssiges Gold, sprich kostbares Benzin. Um 18:45 Uhr – eine Oma in einer verkehrsberuhigten Zone zeigt mir ihren knochigen Stinkefinger – gebe ich auf. Ich will nach Hause, entbinde Frau Navi mit einem Tastenbefehl ihrer Aufgabe und halte mich in Richtung Westen. Dort werde ich irgendwann mal gewiss auf die Küste, und damit auf mein Heimatdorf stoßen. Um 19:25 Uhr bin ich wieder zu Hause. Zehn Minuten später ruft mich Charlotte an und fragt, warum ich nicht gekommen bin. „Wie? Was? War das heute?“ frage ich sie. Mit der Wahrheit hätte ich noch blöder dagestanden.