Verlassen
Worst Case Szenario: mein Internetzugang streikt. Vor einer Stunde noch war ich drin, nun diese rote Warnlampe an meiner Fritz Box.
Heißt, ich bin draußen, ein Ausgestoßener aus dem digitalen Paradies. Ich tue, was ich gelernt habe: Stecker ziehen, dreißig Sekunden warten – und wieder rein. Das berühmte Reset. Normalerweise funktioniert das, aber nicht heute. Warum elektronische Bauteilchen plötzlich den Wunsch verspüren, dich zu ärgern – ich verstehe das nicht. Aber ich verstehe ja vieles nicht. Also ziehe ich alle Stecker raus, die sich im Raum befinden. Ein Versuch. Nix. Ich stelle nebenbei fest, dass auch mein Telefon nicht mehr funktioniert. Aha! Man hat sich gegen mich verschworen. Wahrscheinlich die Achse Merkel-Schwan-Drosten-Gates.
Ich rufe über mein Handy einige Nachbarn an, ob sie gleiche Boshaftigkeit erfahren. „Nö, bei uns ist alles in Ordnung.“ Warum klingt das immer so ein klein wenig hämisch? Ich ziehe noch mal alle Stecker raus, sogar den von der elektrischen Zahnbürste und dem Nasenhaarschneider. Ein Versuch. Ohne Erfolg. Da sitze ich nun, schlagartig arbeitslos. Mein elektronisches Zeichentablett ist schwarz wie die Nacht. Tot. Es gibt Schlimmeres, sage ich mir und gehe raus an die frische Luft, bisschen spazieren, aber in meinem Kopf dreht sich alles um dieses Problem. Er wird nicht frei. Wieder zurück, kontaktiere ich einen örtlichen Fachmann. Er rät mir, mal den Stecker zu ziehen und drei Minuten zu warten. Ziehen kenne ich, drei Minuten sind mir neu. Also daran liegt es, ich muss der Technik mehr Zeit lassen zur Erholung. Ich ziehe also wiederum die Stecker und zähle bis 180. Und? Nix. Ich rufe noch mal den Fachmann an. Er ruft mal bei meinem Anbieter an, sagt er. Mir ist das recht, denn bei technischen Fragen stelle ich mich generell gerne blöd an.
Der Anbieter weiß nichts von einer Störung in meinem Bereich, nein, alles okay. Schade. Ich spüle also das erstaunte Geschirr, räume einen entsetzten Schrank auf, putze meine verschreckten Schuhe und die verstörten Fenster, schneide mir die verdutzten Fußnägel und koche mir anschließend Spaghetti. Hab ja Zeit. Ab und zu besuche ich meinen trostlosen Arbeitsplatz und rede mit ihm über die guten alten Zeiten. Gegen 16:30 Uhr halte ich es nicht mehr aus, ich rufe – persönlich! – bei meinem Internetversorger an. In der Warteschleife esse ich einen Obstsalat und lasse mir von einer sanftmütigen, mich um Geduld bittenden Frauenstimme die Ohren spülen. Dann endlich: „Guten Tag, mein Name ist Melanie, was kann ich für Sie tun?“ Ich danke Gott und Melanie und klage ihr mein Leid. Sie ist freundlich und warmherzig, macht meinen Kummer zu ihren. Ich würde jetzt gerne meinen Kopf auf ihre starke Schulter legen. „Na, dann schaue ich mal nach ihrem Anschluss“, sagt sie fürsorglich und vermittelt mir ein mütterliches Gefühl von Geborgenheit. Stille. Sie schaut. Ich warte und stoße säuerlichen Apfelgeschmack auf. Dann höre ich sie einen erstaunlichen Satz sagen: „Ich sehe gerade, wir haben heute Vormittag bei Ihnen was umgestellt.“
Er hallt lange in mir nach. „Und warum hat man mich nicht vorher davon informiert?“ möchte ich formulieren, werde aber meine Mutti nicht mit patzigen Fragen verletzen, niemals. Sie führt mich weiter einfühlsam wie einen Blinden durch diverse Menüs, bleibt auch bei meinen blödesten Fragen und Kommentaren geduldig und wartet sogar endlose Minuten, die ich benötige, um in meinem Chaos ein Passwort zu finden. Dann ist es so weit, ich bin wieder drin, ich gehöre wieder dazu! Ich sage: „Ich liebe Sie.“ Sie mich auch, meint sie. Wir trennen uns schweren Herzens, weil sie leider Feierabend machen muss. Im Überschwang meines Glückes bestelle ich mir anschließend bei Amazon schwarze Herrensocken, Größe 44/46, im Dreierpack. Bestimmt von minderjährigen Chinesen gestrickt. Scheiß drauf, man muss sich auch mal was gönnen.