Alb-Tram

München. Ich sitze in der Tram zum Hauptbahnhof. Gerade sind alle eingestiegen, da stürzt im letzten Moment eine Familie heran. Mutter mit Kinderkarre und einem kleinem Mädchen drin, er mit schwerem Rucksack und Tasche. Er ist schon im Wagen, sie halb. Die Tür fängt an, sich zu schließen. Kurze Aufregung, sie schreit leicht panisch „Nein!“, er stellt den Fuß in die Tür, zieht den Kinderwagen rein – sie sind alle drin. Uff! Das war knapp. Der Stress rötet ihre Gesichter. Die Tram rumpelt los, sie sucht Halt, er lässt sich schnaufend auf einen freien Platz fallen. Das kleine Mädchen ist schon ziemlich groß, lappt mit den Beinen weit raus aus der Karre, will aber offenbar noch klein sein und jetzt vor allem raus. „Du steigst jetzt definitiv nicht aus!“, warnt die Mutter. Das versteht die Kleine definitiv als Aufforderung und steigt aus.

„Komm her“, sagt der Vater und nimmt sie zu sich auf den Schoß. So fühlt sich missglückte, erzieherische Einigkeit ein. Der Vater bespaßt seine Tochter, erklärt ihre jedes vorbeiziehende Verkehrszeichen und die Häuserfronten. „Schau mal, ein Nagelstudio.“ „Was is´n ein Nagelstudio?“ „Da lässt man sich die Nägel machen.“ „Warum?“ „Weil sie dann schön aussehen.“ „Ich hab Hunger.“ „Schatz, gibst du mal bitte die Laugenbrezel raus?“ „Ich hab Durst.“ „Schatz, und die Saftflasche, bitte.“ Sie steht indessen instabil zwischen Tür und Sitzen. Mit einer Hand hält sie sich, mit der anderen die Karre fest. Bei jeder Bewegung der Tram wirft es sie hin und her.

Ich kann das nicht mit ansehen, neben mir, auf meiner Bank, direkt ihr gegenüber, ist doch ein Platz frei. Nun tue ich etwas Ungeheuerliches. Keine Ahnung, was mich zu dieser Handlung bewogen hat, welche verkapselten, abgrundtiefen Gelüste sich da in mir Bahn brachen, ich – ein weißhaariger, vollreifer Herr – klopfe stumm mit meiner linken Hand auf den freien Platz und lächle ihr freundlich zu. Will sagen, setzen Sie sich doch zu mir, hier ist doch ein Platz frei, brauchen Sie sich nicht so zu quälen. Ich trage auch FFP-Maske. Ich spüre an ihrem entsetzten Blick sofort, Harvey Weinstein lässt grüßen. Oh, Gott, denke ich. Was hast du getan? Das war schändlich, Junge! An der nächsten Haltestelle steht schon ein Sondereinsatzkommando und verbringt dich zur Kastration. Am nächsten Tag lauter die BILD-Schlagzeile: „Schmutziger alter Witzzeichner belästigt junge Mutter!“ Aber ich komme noch mal davon.

Am Hauptbahnhof steigen wir alle aus und sie verschwinden hektisch im Getümmel. Ich höre noch die Kleine fragen: „Mama, wer war denn der weißhaarige Mann?“ „Das war ein alter Sexist.“

Wo ist Roy?

Wo ist Roy?“, brüllt einer. Woher soll ich wissen wo Roy ist? Ich habe nicht die geringste Ahnung und warum brüllt er so, es ist doch schon alles viel zu laut. Schon wieder: „Wo verdammt, ist Roy?“ Ein Höllenlärm. Geht das nicht wirklich ein bisschen leiser, das will ich gerade fragen, da höre ich eine sich überschlagende Stimme: „Fuck, das war nicht alles, die kommen wieder! Die kommen wieder! Das war nicht alles! Sicher du die rechte Flanke!“ Was soll ich flanken? Was soll ich sichern? Warum ich? „Verdammt, wann kommen die F16? Wenn man die Jungs mal braucht, liegen sie bei Mutti!“ „Wo ist Roy?“ „Siehst du den Schatten auf 43 Grad?“ „Ich sehe dich, Bastard, komm nur, komm.“

Hört mal Leute, immer einer nach dem anderen, was ist das überhaupt für ein aufgeregtes Durcheinander, geht das nicht echt ein bisschen leiser, mein Kopf dröhnt schon. „Auf neun Uhr nähert sich ein Pick-Up! Seht ihr den?“ Ich sehe nix, bin völlig überfordert, das ganze Gebrüll strengt mich wahnsinnig an. Wie bin ich da überhaupt reingekommen? „Hast noch´n Magazin für mich?“ Was willst du? Ich hab jetzt keine Lust, um diese Zeit nach einem Magazin zu suchen, wenn du lesen willst, dann kauf dir eins. Mir ist das alles jetzt zu viel, viel zu viel. „Roy hat´s erwischt! Fuck, Roy hat´s erwischt!“, schreit einer. „Bringt ihn runter, bringt ihn runter!!“, schreit ein anderer. „Was machen wir in diesem verfickten Libanon?“, brüllt jemand.

Mein Kopf hämmert langsam unerträglich. Libanon? Was weiß ich denn? Warum seid ihr nicht nach Mallorca? Diese Hektik, dieses ständige Gebrülle und Gequatsche, das Geratter von irgendwelchen Maschinenpistolen. Ja, bin ich denn auf einem Schießstand? „Scheiße, die zweite Welle, Sie kommen!“ „Herzlich willkommen, ihr Bastarde!“ „Komm ins Bett!“ Hä? Wer spricht? Wohin soll ich kommen? Ins Bett? Hört sich verdammt an wie die Stimme von Stefanie. Was macht denn meine Frau hier in dem Kampfgetümmel? „Wie geht´s Roy?“ brülle ich.

„Hey, hey, sach mal…nicht so laut, ich bin doch nicht taub“, sagt Stefanie – und dann Stille, erlösende Stille. Wie hat sie das gemacht? Oh – sie hat den Fernseher ausgeschaltet? Lieber Gott, ich danke dir. „Du und deine beknackten Actionfilme, jetzt komm ins Bett“ höre ich sie fürsorglich sagen. „Verdammt, ich bin doch echt eingeschlafen“, brabbele ich verstört, kratze mir meinen dröhnenden Kopf und erhebe mich stöhnend vom Sofa. „Erzähl mir was Neues“, sagt sie und geht zurück ins Schlafzimmer. Ich folge ihr benommen. Eine diffuse Sorge um Roy begleitet mich noch bis ins Bett.

Platz da!

Sie kommen! Von Kopf bis Fuß durchgestylte Menschen auf teuren E-Mountain-Bikes-Boliden, die SUV´s der Fahrräder. Schon aus der Ferne hörst du den Grip ihrer fetten Reifen dröhnen und ihre Akkus surren. Sollte man dann noch nicht zur Seite gesprungen sein, klingeln sie dich weg und stampfen, den Kopf unter Star-Wars-Helmen, den Batman-Blick hinter verspiegelten Sonnenbrillen verborgen, demonstrativ hautnah an dir vorbei. Auf ihrem Cockpit auf der Lenkradmitte leuchtet der Bordcomputer, in der Spezialhaltung ruht das Handy mit den Streckeninformationen und aus den Kopfhörern hämmert ihnen Rammstein in die Ohren. Sie hacken verbissen einem Ziel entgegen, getrieben vom Ehrgeiz, so schnell und kalorienverbrauchend wie möglich zu fahren. Oft kommen sie wie in einer wilden Herde daher und zwingen dich angsterfüllt auf den Wegesrand. Zurück bleiben aufgescheuchte Kleintiere und hochgewirbelte Blätter. Du schaust ihnen verstört hinterher und fragst dich, mein Gott, was ist nur aus dem betulich, fröhlichen „Jaaa, wird sind mi´m Radel da…“ geworden? Ein Theater der Angeber, so wie auf den Straßen.

Schöne Bescherung

Um den Tannenbaum lag dieses Jahr weniger als sonst. Ist doch klar, es fehlten ja drei Haushalte und der Weihnachtsmann durfte als Mitglied einer Risikogruppe auch leider nicht dabei sein. Die Nordmanntanne war mit Coronakugeln und kleinen, maskierten Engelchen geschmückt und schimmerte festlich. Um 18:47 Uhr brachte ein Kurierfahrer noch die letzten drei Amazon-Pakete, dann endlich konnte die Bescherung losgehen. Eingeleitet wurde sie von der kleine Coco mit dem Quarantäne-Gedicht „Markt und Straßen steh´n verlassen, alles sieht so ängstlich aus. Ach, was für eine Freude. Harald bekam die gesamte Staffel von „Der Herr der Viren“ mit Christian Drosten und Tante Katja einen neuen Aluhut. Über den prächtigen Bildband „Die großen Pandemien“ und die Büste von Jens Spahn freute sich Mutti riesig und Onkel Karl war begeistert als wir ihm den Fotokalender „Karl Lauterbach in Talkshows“ überreichten.

Große Freude herrschte bei Rolf und Ida über die Palette Klopapier und der brandneuen CD „Sweet Home“ von den Lockdown-Singers. Julia bekam ihr gewünschtes 5000er-Puzzle „Markus Söder“ und die Kinder spielten gleich mit ihren neuen Viren-Warn-Apps und den Teststäbchen. Auch die geliebten Nachbarn schauten öfters von draußen ins Fenster, um unsere Einhaltung der Corona-Regelungen zu kontrollieren und Oma und Opa wedelten aus ihrer Isolierkammer glücklich mit ihren Gutscheinen für zwei Corona-Impfungen. Ansonsten war es ein ganz normales Weihnachtsfest.

Wonderwoman

Gut, die Männer haben jetzt fast 300.000 Jahre Zeit gehabt zu zeigen, was sie drauf haben – aber sie haben keine Gelegenheit versäumt sich zu prügeln, zu saufen, zu brüllen und sich dazwischen die Eier zu kneten. Nebenbei haben sie sich alle Machtpositionen gesichert und die weibliche Konkurrenz unter religiösen Vorwänden und selbstgestrickter Gesetze unterworfen, ihr allerdings großmütig einen warmen Platz am Herd und Wickeltisch zugewiesen. Die erste Frau die ohne Erlaubnis ihres Mannes den Führerschein machte, wurde noch Ende der fünfziger Jahre auf den Schafott geschleift, die zweite gesteinigt, weil sie nicht seine Partei gewählt hatte.

Starke Alibi-Frauen findet man in der Menschheitsgeschichte durchaus, allerdings verteilen sie sich dort wie Seepferdchen in einem Schwarm Barracudas. Kleopatra, Hildegard von Bingen, Mutter Theresa, ja, es gab sie, allerdings eher in Bereichen wie Naturkosmetik, Naturheilkunde oder Sozialarbeit, worauf die Männer sowieso keinen Bock hatten. In jüngeren Zeiten gönnten sie den Frauen großmütig die Ministerposten für Familie, Gesundheit und Digitalisierung, erst eine kampfgestählte Aktivistin aus der DDR schaffte es zum ersten Mal in der Geschichte der BRD, die Platzhirsche wegzubeißen und Kanzler*in zu werden. Gestern bekomme ich den neuesten STERN in die Hand, der sich zur EMMA des Gruner + Jahr Verlages entwickelt hat.

Der Chefredakteur bildet noch einmal 16 Titelblattsünden des STERN von 1969 – 2018 ab, allesamt mit schändlich entblößten weiblichen Körpern, und schreibt: „Kommt nicht mehr vor, versprochen!“ Reuig reihe ich mich ein: Nie wieder würde ich noch mal auf der Kunstschule unter dem scheinheiligen Etikett „Aktzeichnen“ nackte Frauen angaffen und zeichnen. Versprochen! Aber nur weil ein paar männliche Primaten ihre Triebe nicht im Griff haben, müssen wir uns nun zukünftig nur noch Titelblätter mit Delphinen, Hochbeeten und Burka-Moden, womöglich noch Robert Habeck oder Jens Spahn anschauen und wieder die Freibad-Spanner vor den Umkleidekabinen der Mädchen verscheuchen? Ich verbitte mir dann aber auch auf Facebook die Belästigung von blutjungen Frauen mit gewaltigen Oberweiten und aufgespritzten Mündern, die alle um meine Freundschaft buhlen. Aber seitdem ich im STERN las, dass Verona Pooth schon als Feldbusch schwer unter ihrer Figur und ihrem Aussehen gelitten hat und sich nur als getarntes Dummchen gegen männliche Begierden und Bohlen wehren konnte, habe ich ihr eine Freundschaftsanfrage gestellt. Ihrem wohlgefälligen Bescheid meines Antrages fiebere ich entgegen. Sperrt bitte einen geläuterten, weißen Mann nicht aus der neuen Zeit aus.

Die Tasche

Warum mache ich das? Warum packe ich mir, kaum dass ich mal ein paar Tage unterwegs bin, sämtliche Aufgaben ein, die ich ewig schon erledigen wollte? Mein Testament, mein Fahrtenbuch, mein Brief an Andy Scheuer, mein Antrag auf Steuerbefreiung, meine Konzepte für neue Projekte, meine Botschaft an die Welt, von meiner Autobiografie und dem Entwurf für einen Jahrhundertroman mal ganz abgesehen. Alle diese Vorhaben schleppe ich also fluchend in einer bedeutungsschweren, schwarzen Tasche – mein tragbares, schlechtes Gewissen – auf Reisen von Ort zu Ort mit mir herum. All meine Freunde und Bekannten kennen sie und ein Besuch von mir ohne dieses Gepäckstück würde sie garantiert verstören. Am Ende meiner Reisen kehrte dieses Teil genau so wieder nach Hause zurück, wie es abgereist war, allein meine Armmuskulatur hatte sich verändert, sonst war der Inhalt völlig unberührt.

Vor Jahren hatte ich die Tasche mal versehentlich bei einem bayerischen Freund stehen lassen. Er schickte sie mir umgehend nach und legte mir als kleines Geschenk eine frische Laugenbrezel hinein, weil er wusste, dass die mir nur in Bayern schmeckt, die hiesigen Bäcker bei mir im Norden kriegen so einen Teig einfach nicht hin. Monate später habe ich die versteinerte Backware gefunden. Sie hängt nun als Zierde bei mir an der Eingangstür.

Bla-bla

Der Brandenburger kommt mit drei Sätzen durchs Leben, sagt Florian.
Der erste lautet: „Du sagst es.“ Der zweite: „Da ist was los.“ Der dritte: „Da kann man nix machen.“ Wunderbar.

Das erinnert mich an den von mir einst verehrten Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch, der mal gesagt hatte: „Der Niederrheiner weiß nix, kann aber überall mitreden.“ Eine Grundausstattung an Plattitüden erschien mir im Leben immer wichtig, um in den Niederungen des alltäglichen Gequatsches einen Eindruck von höflichem Interesse zu bewirken. Aufmerksame Beobachter würden schon an meinem leicht glasigen Blick, und wie ich mich am Kinn kratze, bemerken, dass ihre Worte meine Ohrengänge nur belüften, aber nicht den geringsten Kontakt zu meinem Hirn bekommen. Bestimmte Inhalte müssen nämlich bei mir eine Kontrollstelle passieren, in der entschieden wird, ob sie für mich interessant oder unwichtig sind. Dieser Punkt liegt bei mir im Innenohr, genau an der Abzweigung, wo das Schild mit den beiden Richtungspfeilen „Zum Hirn“ und „Ausgang“ drauf steht. Letztere werden quasi einfach nur durchgewunken.

Typische Ausgangsthemen sind für mich Krankheit und Gebrechen, Kirche, Pferde, Hefekulturen, Karl Lauterbach, Verwandtschaft, Rechte, Baumärkte, Stricknadeln, Aktienkurse, Rasenmäher, Hochbeete und Humor in Buchhandlungen. „Zum Hirn“ lasse ich hingegen freudig Anya Taylor-Joy, Katzen, Hunde, meine Söhne, Bierbraukunst, Topfkratzer, Zeichenkunst, Buntspechte, Kosmos, Geschichte, Musik, karierte Hemden, Frieden, Bäume, Freunde und Kartoffelsuppe mit Würstchen. Da kann man nix machen.

Aus und vorbei

Leicht haben die Anwesenden es sich nicht gemacht, aber letztendlich fiel die Entscheidung einstimmig. Er passt einfach nicht mehr in die Zeit, da war man sich einig, außerdem muss dringend gespart werden. Die hohen Reisekosten, der Energieverbrauch, die Umweltbelastung, kurzum: der Weihnachtsmann muss weg!

Es sei nun wahrlich an der Zeit für einen älteren Herren von über 1.600 Jahren, in den wohlverdienten Ruhestand zu gehen. Den Grünen war dieser alte, weiße Mann schon lange ein Dorn im Auge, längst gehörte an diesen Platz ihrer Ansicht nach eine Frau oder eine queere Person, zumindest auch mal ein Vertreter der muslimischen Minderheit hin, einfach um die Diversität zu fördern und Weihnachten bunter zu machen. Der Vertreter der Tierschutzorganisation PETA sprach sich vehement dafür aus, die armen Rentiere endlich auf den Gnadenhof zu schicken. Schließlich würden die Menschen sich immer größer und schwerer beschenken und man weiß doch, warum der Weihnachtsmann sich weigerte, mal auf die Waage zu treten. Die Gewerkschaft TRANSPORT & SCHLITTEN hatte für dieses Jahr sowieso einen Streik geplant, sagte ihr Geschäftsführer, worauf der Verkehrsminister souverän bemerkte, da würde die Bahn locker einspringen.

Nachdem das tosende Gelächter sich einigermaßen beruhigt hatte, drohte Frau Strack-Zimmermann von der FDP barsch mit dem Einsatz eines Leopard 2, um die Kündigung des Weihnachtsmannes zu verhindern, wurde aber mit einem Gutschein für eine Großpackung des Haarfärbemittels Alpecin-Power-White bestochen. Die AfD sah natürlich in dem Ganzen die systematische Aushöhlung traditioneller, deutscher Werte und will mit dem Fall nach Karlsruhe. Söder kündigte sofort an, dass Bayern den Weihnachtsmann übernimmt, ihn aber in eine blauweiße Tracht stecken wird. Die Familienministerin gab die Folgen für die Kinder zu bedenken, die ja nun am Heiligen Abend keinen Weihnachtsmann mehr hätten, worauf aus der Runde jemand „Schon mal was von Roboter gehört?“ rief. Die Kirchenvertreter erklärten, sie würden unverzüglich Gott davon in Kenntnis setzen, dass seine Engel nun ihren liebsten Job verloren hätten. Der Justizminister sah dem gelassen entgegen.
Na, frohe Weihnacht!

Miss you

Die jungen Männer von heute werden immer breiter. Das ist nur bedingt Veranlagung, in der Regel die Folge von schweißtreibendem Training, zumeist in Bodystudios, teils auch zuhause. Inspiriert wird unsere Jugend durch Schauspieler aus den USA, die so aufgepumpt sind, dass man den Eindruck hat, ihre Köpfe werden immer winziger und ihre Oberarme die neuen Oberschenkel. Dieser Trend liegt voll im männlichen Bedürfnis, Kraft und Stärke zu demonstrieren, eine naturgegebene Wesensart aus den Zeiten von Keule und Mammut. Außerhalb der Zweckmäßigkeit sich zu ernähren oder seine Frau zu beschützen, entlud sich solcherart aufgestaute Energie in der Menschheitsgeschichte gerne auch in dem Wunsch, nicht nur keinem Streit aus dem Wege zu gehen, sondern ihn vielmehr zu suchen. Die gängige Bezeichnung dafür ist „Krieg“. Einer dieser jungen Krieger stand gestern mit seiner Freundin vor mir in der Eisdiele. Während ich in seinem mächtigen Schulterschatten schon mal über die Wahl meiner Eissorten nachdachte, fiel mein Blick auf ein Tattoo auf seinem mächtigen Unterarm: „miss you mom, 1.1.2019“.

Fliegende Pfeile

Sportler/innen sind in der Regel durchtrainierte Athleten, muskulös und sehnig, kein Gramm Fett zu viel, Figuren wie aus Marmor geschlagen. Nur so sind sie in der Lage, ihre Leistungen abzurufen, Weltrekorde zu laufen, zu springen, zu fahren, zu fliegen, Tore zu schießen oder zu werfen. Aber es gibt eine Sportart, geboren im Mix von Tabakqualm und Bierschaum der englischen Pubs, in der es von hässlichen, fetten Männern nur so wimmelt. Große oder kleine Kerle mit Bierbäuchen, Doppelkinn oder Brille, mit Irokesenschnitt und Tattoos: Darts! Solche herrliche Typen stehen dann bei ihren Wettbewerben auf einer Bühne und werfen mit koketter Fingerhaltung und unfassbarer Präzision hochkonzentriert drei kleine Pfeile auf eine Scheibe – und das, obwohl in ihrem Rücken eine selig besoffene Masse von lustig kostümierten Zuschauern permanent lärmt und bei jedem gelungenen Wurf tobt und gröhlt. Ruft der glatzköpfige Sprecher, der direkt neben der Scheibe steht und blitzschnell die drei Würfe addiert, mit seiner vom Alkohol geschmirgelten Stimme die drei Supertreffer „One hundred and eiiiiiiiiiighty!“ in sein Mikrofon, dann rollt ein Orkan der Begeisterung durch die Menge. Letztes Wochenende war das Finale der Weltmeisterschaft, Preisgeld für den Gewinner: 500.000 Pfund! Erkämpft hat sie sich der Waliser Gerwyn Price, Ex-Rugbyspieler und Türsteher. Ich liebe Darts.