Der Ausbruch

Seit gut zwei Wochen starre ich wir paralysiert auf Bilder, die täglich in den Medien zu sehen sind und kann es einfach nicht glauben: Der Vulkan Cumbre Vieja auf La Palma ist ausgebrochen. Unweit von seinem Lavafluss hatten wir mal 22 Jahre ein Ferienhaus, quasi nebenan. Wenn die ausgewanderten Freunde damals wieder mal die Vorteile und Schönheiten „ihrer“ Insel priesen und damit ihren Umzug verteidigten, wenn sie den europäischen Kontinent mit all seinen Gefahren provozierend in düsteren Farben malten, dann zogen wir in unserer Verzweiflung die Karte der palmerischen Vulkanbedrohung und erntete dafür nur Gelassenheit: „Kein Thema, da leben wir längst nicht mehr.“

Zugegeben, ich hab ich das dreist auch für unmöglich gehalten und hörte ihre Zuversicht gerne, denn immerhin stand auch unser Haus im Einzugsbereich eines Vulkans. Seine Energie glaubte ich immer unter mir zu spüren, war oft unruhig, träumte völlig irres Zeug und wurde ab und zu mal von massiven Gemütsstimmungen befallen, die mir sonst in dem Maße fremd waren. Als guten Geist, als Beschützer unseres Hauses, habe ich dann demonstrativ eine gewaltiges Lavasteinfragment vom letzten Ausbruch in unseren Garten stellen lassen und ihn mit seinen Runzeln vom Lavafluss speziell für unsere Söhne als „alten Mann“ bezeichnet, der auf uns alle aufpasst. Bis zum Verkauf meines Hauses hatte er seine Aufgabe vorbildlich erfüllt, warum er 2021 plötzlich keine Lust mehr hatte, macht mich sprachlos. Denn durch Todoque, direkt nebenan, kroch nun vor meinen Augen und denen der ganzen Welt auf den Bildschirmen eine riesige schwarze Welle von Lava und fraß vor meinen entsetzten Augen der Reihe nach die Häuser, Gärten und Pools vieler meiner Freunde und Bekannten. U.a. das Haus von Klaus und Karin, von Martin, Manuela, Tina und Axel, Stück für Stück, wie ein Monster legte es sich über die Dächer, umschlang die Wände, ließ Scheiben zerbersten, Mauern einstürzen und Gasflaschen explodieren. Ein Inferno. Die ganze Welt sah zu, wie die Lava sich spektakulär in den Garten und den Pool von Manuela stürzte. Und erschauderte.

Ich kannte jeden Winkel vieler ihrer Immobilien, hab dort jahrelang wundervolle Stunden verbracht, den Träumen und Optimierungswünschen ihrer Besitzer gelauscht, ihren Stolz gespürt und mich an ihrem Glück erfreut. Sie waren angekommen und hatten ihren Platz gefunden. All ihre Behördengänge, Kosten, Mühen, Sorgen und Gedanken waren mir nur zu bekannt. Viele, wie ich, mussten sich richtig lang machen für diesen Ferientraum und sich mit Zimmervermietung oder kurzfristigen Krediten über mach klamme Runden helfen. Die Pflege und Gestaltung der Räume und Gärten, die banale Beschaffung einer neuen Lampe, einer Matratze, eines Wäscheständers oder einer Knoblauchpresse, alles das war auf La Palma in den 80er/90ziger Jahren – auch später noch – teils ein abenteuerliches Unterfangen. Hunderte kleiner Besorgungen und Erledigungen, um das heimische Nest, Haus oder Wohnung, zu erhalten und zu verschönern. Jeder kennt das. Und nun liegt das alles unter einem steinernen Leichentuch begraben.

Angenehme Temperaturen, magisches Licht, klappernde Fächerpalmen und über allem ein unvergleichliches Blau, geziert von flauschigen Passatwolken, dieser Traum ist La Palma weiterhin – aber nun sind da diese unvorstellbaren Bilder. Wie aus einem billigen Lothar Emmerich Katastrophenfilm. Das erste Foto, eine Minute nach dem Ausbruch schoss Manuela von ihrem Haus. Schneeweißes Mauern, sonniges, strahlendes Szenario und im Hintergrund eine störende Rauchwolke, als würde ein Einheimischer Autoreifen verbrennen. Und dann zeigte die Natur, wozu sie fähig ist. Sie nimmt keine Rücksicht auf irgendwas, nicht mal eine Kirche war ihr heilig, wälzte sich wie ein Drache feuerspeiend in Richtung Meer.

Ja, wer unter Vulkanen, dicht an Bergrücken, Meeren oder Flüssen baut, spielt Russisch Roulette. Die menschliche Hybris wird bestraft. Ich weiß. Aber der Natur bei so einem Wutausbruch zuzuschauen, ist furchterregend und unglaublich erschütternd. Ältere Palmeros erleben den dritten Vulkanausbruch seit 1949. Sie werden „tranquillo“ sagen, einen Cortado trinken, in die Hände spucken und weiter leben. Mit ihren Vulkanen.