Trink, Brüderlein, trink…

Im zunehmenden Maße führt man im Alter Gespräche über seine Gesundheit, vordringlich über die fehlende. Meistens wird einem so ein Gespräch von anderen aufgezwungen, von Menschen, wo man es sofort bereut, dass man sie „Wie geht´s?“ gefragt hat. In der Flut ihrer Befindlichkeiten und Befunden taucht unter Garantie die Frage auf „Trinkst du denn auch genug?“, alternativ auch die Mahnung „Du musst genug trinken.“ Darüber haben wir in jungen Jahren kein Wort verloren, genug trinken gehörte zu unserem Alltag, besonders abends und nachts. Heute nun ist es ein Muss. Seltsamerweise hat man im Alter nicht mehr so viel Durst, das heißt, man muss sich zum Trinken richtiggehend zwingen. Die Angaben über das nötige Maß an täglicher Flüssigkeitszufuhr schwanken zwischen zwei bis drei Liter, manche nehmen sogar noch mehr zu sich, bewegen sich damit dann allerdings schon in Richtung Kamel. Ich habe mich zwischen zwei und drei Liter Wasser eingependelt und erschrecke mich jeden Morgen, wenn ich mir streng meine Tagesration in Glasflaschenform auf den Tisch stelle. Oh, Gott! Das soll ich heute alles trinken.

Das erste Glas schütte ich mir noch wacker rein, danach versiegt mein Bedürfnis deutlich. Natürlich variiere ich auch, trinke Wasser als Tee oder Schorle, aber die Leidenschaft, mit der ich abends mein kühles Helles verköstige, erreichen diese Mixturen nicht annähernd. Dennoch, ich beiße mich….besser, saufe mich tagsüber durch. Das wiederum hat Konsequenzen. Denn was oben reinfließt, will unten wieder raus, heißt, ich muss ständig pinkeln. Warum kann ich noch heute Stunden lang unbeweglich in einem Wirtshaus sitzen und Bier in mich reinschütten, muss aber nach einem Glas Wasser schlagartig aufs Klo? „Wasser treibt“, sagte mein Vater immer. Er musste das wissen, er war Ruderer, vergaß aber zu sagen: „Kaffee in Kombination mit Wasser treibt unvorstellbar.“

So also betrete ich nach meinem Frühstücksmüsli mit Kaffee und Wasser zum Einkaufen meinen Supermarkt und stürze sofort ins Kundenklo. Manchmal ist es so knapp, dass ich mich heimlich auf der Rückseite des Gebäudes in ein Gebüsch entleere. (Männer!) Die Stelle kennt mich schon. Fahre ich mal morgens von meinem Dorf nach Hamburg, halte ich auf den 180 Kilometern mindestens drei Mal an und schaffe es oft in letzter Sekunde in das Autobahnklo. Damit ich immer auf der sicheren Seite bin, hat mir ein Freund ein mobiles Urinal für die Autofahrt geschenkt. „In Tokio bei den vielen Staus führen das alle Autofahrer mit sich“, meinte er, dabei war der noch nie in Tokio. Das Teil sieht aus wie eine breite WC-Ente, gibt es auch mit Aufsatz für Frauen. Eine sehr praktische Erfindung und funktioniert sogar. Sieht wohl in aktiver Nutzung ziemlich erbärmlich aus, aber eine vollgepisste Hose ist ungleich erbärmlicher. Letzte Woche war ich mit meinem Auto in der Werkstatt, als ich es nach Stunden wieder abholte, lag mein geliebtes Urinal demonstrativ auf dem Beifahrersitz. Der fürsorgliche Mechatroniker muss es wohl unter meinem Fahrersitz gefunden haben. Ich glaube, ich hatte einen knallroten Kopf.

Kuckst du?

Der Durchbruch war zu erwarten: Die Hersteller von Sehhilfen, im Komplott mit den Optikern, haben mit einem cleveren Marketing dass Brillen-Design als stilvolles Mittel zur Verschönerung eines Gesichtes und zur Steigerung ihres Umsatzes gepusht. Während Menschen mit Sehschwäche früher lieber Kontaktlinsen trugen, da sie Brillen als Offenbarung einer körperlichen Behinderung hässlich empfanden, tragen heute manche Leute eine Brille, obwohl sie perfekt sehen können – einfach weil sie finden, dass so ein Teil im Gesicht etwas Tolles mit ihnen macht. Es macht sie interessanter, klüger, reifer, zumindest konzentrierter.

Ein alter Studienkollege von mir, später in der deutschen Musikszene eine Größe, gestand mir vor Jahren, dass seine Brille damals nur Fensterglas hatte, weil er damit einen intellektuelleren Eindruck schinden wollte. Er nannte sie scherzhaft seine „Intelligenzprothese“. In meiner Jugend waren Kumpels mit Brillen besonders beliebt, weil sie in einer Rauferei wunderbar benachteiligt waren, man riss ihnen einfach die Brille von der Nase und sie trafen dich nicht mehr.

Ich jedenfalls traf gestern im Supermarkt Lara mit einer neuen, schwarzen Brille, mit der sie aussah wie Buddy Holly. Passte irgendwie gar nicht. „Warst du bei der Anprobe eigentlich bei Bewusstsein?“, wollte ich sie fragen, entschied mich aber dagegen, nachdem ich spürte, wie stolz sie auf diesen modischen Klumpen war und wahrscheinlich beim Optiker Dutzende Brillen anprobiert und diskutiert hatte, bis ihr Typberater und alle weiteren Anwesenden endlich den erlösenden Satz gestöhnt hatten: „Boah! Diiiie steht dir aber gut!“

Während wir uns unterhielten, starrte ich also in ihre von dicken, schwarzen Kreisen umrahmten Augen und konnte mich einfach nicht konzentrieren. Aber Lara ist in guter Gesellschaft, denn seit längerem schon beobachte ich Promis oder Politiker, die mit extravaganten, teils überproportionalen Augengläsern ihrer öffentlichen Wirkung eine vitale, modische Attitüde verleihen wollen. Einige sehen damit wie Uhus, andere eher wie Horst Schlemmer, ganz wenige dadurch besser aus. Dem überwiegenden Teil, so empfinde ich immer, ist keine ehrliche Beratung zuteil geworden. Beim Abschied drehte sich Lara noch mal um und rief: „Ach, wie findest du übrigens meine neue Brille?“ „Euch auch“, antwortete ich und stieg rasch in mein Auto.

Zum Totlachen

Ich scheue mich, es ihnen ins Gesicht zu sagen, aber sie haben sich verändert. Wenn ich sie früher besuchte, sprachen wir über alles, nur nicht über Krankheiten. Die hatte man nicht oder sie spielten keine Rolle, weil das Leben einfach schöner war. Heute liegen bei ihnen Salben und Säfte herum, in den Schubladen wimmelt es von Medikamenten und auf der Vitrine, wo früher der Aschenbecher stand, steht jetzt das Blutdruckmessgerät. Ich erfahre ihre neuesten Cholesterin- und PSA-Werte, alles über ihr Gewicht und den Zustand ihrer Gelenke, ich weiß nun, was sie nicht mehr essen oder vergessen und zu welchem Arzt sie gerne, oder weniger gerne gehen. Prahlt er mit seiner Arteriosklerose, wirft sie ihre Osteoporose in den Ring, gibt sie stolz an, vier Mal nachts auf die Toilette zu gehen, geht er fünf Mal. Sie zeigen mir ihre neuesten Rückenübungen und was man alles gegen Verstopfung tun kann. Wir sehen gemeinsam Videos von ihren liebsten Physiotherapeuten und über das Wunder der Nahrungsergänzungsmittel.

Habe ich endlich alles über ihren akuten Gesundheitszustand erfahren, gehen wir die neuesten Herzinfarkte, Hirnschläge und Schlaganfälle in ihrem Umfeld und Bekanntenkreis durch. In der Regel sind auch immer zwei oder drei völlig unerwartete Todesfälle dabei. Meinen zaghaften Versuch, ihnen von meinem steifen Nacken zu erzählen, kontern sie mit ihren kaputten Hüften. Am Ende meines Besuches spazieren wir immer noch ein bisschen über den nahegelegenen Friedhof und besichtigen ihre zukünftige Grabstelle. Letztes Mal baten sie mich um Beratung in Sachen Inschrift. Ich schlug ihnen „Erfolgreich gestorben“ vor. Sie wollten das noch mit ihrem Psychotherapeuten diskutieren.

Graffiti-Terror

Mein Freund hat das schöne, zweistöckige Haus seiner Eltern in der Altstadt am Fluss geerbt. Nach dem großen Hochwasser schütteten die Stadtväter großzügige Finanzhilfen über die geschädigten Bürger aus. Das war seine Chance, endlich die große Hauswand an der Gasse, die direkt runter zum Fluss führt, neu verputzen und streichen zu lassen. Die graue Fassade war ihm schon lange ein Dorn im Auge, nun strahlte sie schneeweiß und makellos. Er dankte der Hochwasserhilfe von Herzen. Zwei Tage später stand, in riesigen Buchstaben und leuchtendem Blau gesprayt, „BLACK LIVES MATTER!“ dran. Als gerechter Mensch, der er war, hatte er wohl Verständnis für die Solidarität mit den Vernachlässigten und Unterdrückten – aber nicht für diese Aktion. Er kochte vor Wut.

Am nächsten Tag hing ein laminierter Brief „An die lieben Damen und Herren Sprayer“ an der geschändeten Wand, in dem er sie einlud, doch zu ihm zu kommen und ihm bei einem gut gekühlten Bier all ihren Frust zu offenbaren und gemeinsam Lösungen zu erarbeiten – aber nicht an seiner Hauswand! Ein Reporter der örtlichen Presse hatte den Brief sogar fotografiert und in der Zeitung, als Dokument der Verzweiflung eines ehrenwerten Bürgers im Kampf gegen Anarchie und Vandalismus, groß abgedruckt. Der/die Täter nahm/en die Einladung nicht an. Irgendwann hatte ein weiterer Schmierfink mit einem dicken Filzschreiber noch „Jesus lebt“ dazu gekritzelt. Nach Monaten des Leidens beauftragte mein Freund einen Maler damit, diese optische Schande zu beseitigen. Danach leuchtete die Hauswand zu seiner großen Freude endlich wieder im makellosen Weiß. Eine Woche später stand, blutrot und riesig, „Fleischesser sind Kannibalen“ dran. Ich stellte die These auf, dass der Täter aus seinem inneren Zirkel stammen müsste, denn wer wüsste sonst, dass seine Lieblingsspeise krosser Schweinebraten war? Daraufhin drohte er mir zornig an, an meine Wohnungstür „Bier ist auch keine Lösung“ zu sprayen. Verbitterte Freunde können so verletzend sein.

Unwürdig

Der singenden Kunst baut man bombastische Opernhäuser, der Schauspielkunst grandiose Theater, der Kunst der Malerei prächtige Museen, der göttlichen Botschaft gewaltige Kirchen und der Kunst des Herrschens prunkvolle Schlösser. Und was ist mit dem Humor? Dem man immense Wirkung auf Mensch und Gesellschaft zuschreibt, magische, heilende Kräfte attestiert, ja sogar für den einzig Befähigten hält, als global Regierender der Welt den ewigen Frieden zu bringen? Wo steht sein würdiges Haus, in dem man die Kunst der Karikatur preisen und diese famosen Energie genießen kann? Vielleicht dort, wo einst Heinrich Zille seinen genialen Pinsel schwang, in der Hauptstadt Berlin? Vielleicht in Karl Valentins München? Weit gefehlt. Geld für die Kunst des Lachens? Diesem stoßartigen, lauthalsen Geräusch mit dem unkontrollierten Körperzucken? Abgelehnt! Bitte wenden Sie sich doch an den nächsten Arzt oder Apotheker.

Der Ausbruch

Seit gut zwei Wochen starre ich wir paralysiert auf Bilder, die täglich in den Medien zu sehen sind und kann es einfach nicht glauben: Der Vulkan Cumbre Vieja auf La Palma ist ausgebrochen. Unweit von seinem Lavafluss hatten wir mal 22 Jahre ein Ferienhaus, quasi nebenan. Wenn die ausgewanderten Freunde damals wieder mal die Vorteile und Schönheiten „ihrer“ Insel priesen und damit ihren Umzug verteidigten, wenn sie den europäischen Kontinent mit all seinen Gefahren provozierend in düsteren Farben malten, dann zogen wir in unserer Verzweiflung die Karte der palmerischen Vulkanbedrohung und erntete dafür nur Gelassenheit: „Kein Thema, da leben wir längst nicht mehr.“

Zugegeben, ich hab ich das dreist auch für unmöglich gehalten und hörte ihre Zuversicht gerne, denn immerhin stand auch unser Haus im Einzugsbereich eines Vulkans. Seine Energie glaubte ich immer unter mir zu spüren, war oft unruhig, träumte völlig irres Zeug und wurde ab und zu mal von massiven Gemütsstimmungen befallen, die mir sonst in dem Maße fremd waren. Als guten Geist, als Beschützer unseres Hauses, habe ich dann demonstrativ eine gewaltiges Lavasteinfragment vom letzten Ausbruch in unseren Garten stellen lassen und ihn mit seinen Runzeln vom Lavafluss speziell für unsere Söhne als „alten Mann“ bezeichnet, der auf uns alle aufpasst. Bis zum Verkauf meines Hauses hatte er seine Aufgabe vorbildlich erfüllt, warum er 2021 plötzlich keine Lust mehr hatte, macht mich sprachlos. Denn durch Todoque, direkt nebenan, kroch nun vor meinen Augen und denen der ganzen Welt auf den Bildschirmen eine riesige schwarze Welle von Lava und fraß vor meinen entsetzten Augen der Reihe nach die Häuser, Gärten und Pools vieler meiner Freunde und Bekannten. U.a. das Haus von Klaus und Karin, von Martin, Manuela, Tina und Axel, Stück für Stück, wie ein Monster legte es sich über die Dächer, umschlang die Wände, ließ Scheiben zerbersten, Mauern einstürzen und Gasflaschen explodieren. Ein Inferno. Die ganze Welt sah zu, wie die Lava sich spektakulär in den Garten und den Pool von Manuela stürzte. Und erschauderte.

Ich kannte jeden Winkel vieler ihrer Immobilien, hab dort jahrelang wundervolle Stunden verbracht, den Träumen und Optimierungswünschen ihrer Besitzer gelauscht, ihren Stolz gespürt und mich an ihrem Glück erfreut. Sie waren angekommen und hatten ihren Platz gefunden. All ihre Behördengänge, Kosten, Mühen, Sorgen und Gedanken waren mir nur zu bekannt. Viele, wie ich, mussten sich richtig lang machen für diesen Ferientraum und sich mit Zimmervermietung oder kurzfristigen Krediten über mach klamme Runden helfen. Die Pflege und Gestaltung der Räume und Gärten, die banale Beschaffung einer neuen Lampe, einer Matratze, eines Wäscheständers oder einer Knoblauchpresse, alles das war auf La Palma in den 80er/90ziger Jahren – auch später noch – teils ein abenteuerliches Unterfangen. Hunderte kleiner Besorgungen und Erledigungen, um das heimische Nest, Haus oder Wohnung, zu erhalten und zu verschönern. Jeder kennt das. Und nun liegt das alles unter einem steinernen Leichentuch begraben.

Angenehme Temperaturen, magisches Licht, klappernde Fächerpalmen und über allem ein unvergleichliches Blau, geziert von flauschigen Passatwolken, dieser Traum ist La Palma weiterhin – aber nun sind da diese unvorstellbaren Bilder. Wie aus einem billigen Lothar Emmerich Katastrophenfilm. Das erste Foto, eine Minute nach dem Ausbruch schoss Manuela von ihrem Haus. Schneeweißes Mauern, sonniges, strahlendes Szenario und im Hintergrund eine störende Rauchwolke, als würde ein Einheimischer Autoreifen verbrennen. Und dann zeigte die Natur, wozu sie fähig ist. Sie nimmt keine Rücksicht auf irgendwas, nicht mal eine Kirche war ihr heilig, wälzte sich wie ein Drache feuerspeiend in Richtung Meer.

Ja, wer unter Vulkanen, dicht an Bergrücken, Meeren oder Flüssen baut, spielt Russisch Roulette. Die menschliche Hybris wird bestraft. Ich weiß. Aber der Natur bei so einem Wutausbruch zuzuschauen, ist furchterregend und unglaublich erschütternd. Ältere Palmeros erleben den dritten Vulkanausbruch seit 1949. Sie werden „tranquillo“ sagen, einen Cortado trinken, in die Hände spucken und weiter leben. Mit ihren Vulkanen.

Vernissage

Charlotte lädt zur Vernissage. Montag, 18 Uhr, für Getränke und Häppchen ist gesorgt. Ich plane diesen Termin ein, bette ihn zwischen Arbeitsende und Sofa. Schnell geduscht, frisches Hemd und Deo. Im Auto noch mal auf WhatsApp die Einladung gelesen: Montag, 16 Uhr in Oeversee im Akademieweg 6. Na, toll. 16 Uhr nicht 18 Uhr, Butschkow, du Trottel. Aber die 6 und die 8 sind sich optisch sehr verwandt, entschuldige ich mich selber.

Wenn ich bisschen Tempo mache, bin ich pünktlich um 18 Uhr zu den Abschiedsworten da, vielleicht ist noch ein Fischbrötchen übrig und die Künstlerin versöhnungsfähig. Ich gebe die Adresse in meinen Bordcomputer ein und bin schon auf der Straße. Gegen 17:45 Uhr nähere ich mich meinem Ziel. Frau Navi meint, ich soll jetzt weiter geradeaus fahren, mach ich aber nicht, ich biege lieber rechts ab und folge ganz traditionell, so wie früher, einem offiziellen Hinweisschild nach „Oeversee“. Madame schweigt verdutzt. Ich liebte es schon immer, Frauen mit unerwarteten Handlungen zu verwirren. Endlich hat sie begriffen: „Bitte vier Kilometer geradeaus.“ Nach drei Kilometern ist die Straße wegen Bauarbeiten komplett gesperrt. Na bravo. Ich biege scharf links ab und warte auf neue Instruktionen – und endlich kommen sie: „Hundert Meter halb rechts…nach fünfzig Metern rechts….links…rechts…halb rechts…scharf links…geradeaus…nach hundert Metern…“

Ich durchquere Wohnsiedlungen, Bauernhöfe, passiere Kreuzungen, kleine Brücken, folge brav ihrem „Bitte wenden“, erreiche manche Stellen zum zweiten, mitunter zum dritten Mal, erkenne inzwischen Häuser, Gärten und Garagen wieder, sogar Menschen, die langsam auf mich aufmerksam geworden sind und mir ein fröhliches „Moin-Moin!“ zuwinken. Jetzt wäre die Chance neue Freundschaften zu schließen, aber ich muss dringend zu Charlotte.

Es ist bereits 18:35 Uhr und ich kreise, irgendwo im Nirgendwo, irregeleitet von einer digitalen Leitwölfin um einen imaginären Veranstaltungsort und verfahre flüssiges Gold, sprich kostbares Benzin. Um 18:45 Uhr – eine Oma in einer verkehrsberuhigten Zone zeigt mir ihren knochigen Stinkefinger – gebe ich auf. Ich will nach Hause, entbinde Frau Navi mit einem Tastenbefehl ihrer Aufgabe und halte mich in Richtung Westen. Dort werde ich irgendwann mal gewiss auf die Küste, und damit auf mein Heimatdorf stoßen. Um 19:25 Uhr bin ich wieder zu Hause. Zehn Minuten später ruft mich Charlotte an und fragt, warum ich nicht gekommen bin. „Wie? Was? War das heute?“ frage ich sie. Mit der Wahrheit hätte ich noch blöder dagestanden.

Häme ist geil

Ja, was lese ich denn da? Der MediaMarkt hängt in den Seilen? Er kämpft um seine Existenzberechtigung? Die Geschäfte laufen nicht mehr und die Kunden ihnen weg? MediaMarkt, sorry – das salbt meine alten Wunden. Damals – ihr erinnert euch? – als ihr diesen perversen Werbeclaim „Geiz ist geil“ auf den Markt geworfen habt, da gingen euch die Konsequenzen für die sonstige Wirtschaft am Arsch vorbei. Der Riesenerfolg eurer menschlichen Todsünde-Erweckungs-Kampagne hat euch glückstrunken gemacht. Der Deutsche fühlte nun seine krankhafte Raffgier, seine Jagd auf Schnäppchen und die Gier nach Mehr für Weniger, öffentlich abgesegnet und gepriesen.

Wie ein Vulkan der das ganze Land erfasste, brach nun der enthemmte Geiz mit aller Pracht im Kunden durch. „Billig“, „spottbillig“ und „noch billiger“ regierten nun nicht nur den Elektrohandel, sondern die gesamte Wirtschaft gleich mit. Den grafisch schreienden, billigen „Geiz ist geil“-Anzeigen und Plakaten konnte keiner mehr entkommen. Es wurde nun um jeden Preis gefeilscht und gehandelt und selbst bei privaten Geschäften versucht, den Preis zu drücken. Zum besseren Verständnis: es ist nicht geiler, mehr zu bezahlen als man sollte, aber asozial, einen Anbieter auszupressen, bis für den fast nix mehr drin ist und die Wertzunahme allein für sich einzusacken. Die in Stein geschlagene, ehrwürdige Kaufmannsregel lautet: Ein gutes Geschäft ist immer für beide gut.

Eine Oma aus meinem Dorf kam damals zu mir ins Haus, um ein Buch von mir zu kaufen. „Setz dich“ sagte ich, „und schaue dir erst mal an, ob es dir gefällt.“ Sie setzte sich, blätterte zehn Minuten in meinem Buch, bekam von mir sogar einen Kaffee und fragte dann: „Was soll es denn kosten?“ Ich antwortete: „Im Handel kostet es 9,- Euro, du bekommst es von mir für 6,- Euro.“ Sie schaute mich einen Moment an, überlegte und sagte dann: „5.- Euro!“ Ich hab sie rausgeschmissen. Tut mir leid“, sagte sie reuig, “aber man kann es doch wenigstens versuchen.“

Auch sie hatte die nackte Gier befallen. Und so rollte nun der gallige Geiz durchs Land und hat mir u.a. mit meinen Kalenderumsätzen bis heute einen unveränderbaren Einkommensverlust von 60% verursacht. Auch die Buchverlage merkten es bitterlich. Eigentlich jeder, der etwas zu verkaufen hatte. Und der MediaMarkt hat sich damals einen gefeixt, Containerschiffe mit Waschmaschinen und Fernseher verscherbelt und seine Hamburger Werbeagentur für diese geile Kampagne garantiert fürstlich bezahlt. Diese Agentur steht gewiss nicht auf billig.

Ich bin letzte Woche zu meinem Einzelhändler für Elektronik in den Nachbarort gefahren und habe mir einen neuen Fernseher gekauft. Wir haben eine Stunde Fernsehprogramme begutachtet, dabei Kaffee getrunken und geplauscht. Am nächsten Tag kam er mit dem Gerät, installierte und erklärte mir geduldig alles und ließ seine Telefonnummer da. „Sie können mich jederzeit anrufen, wenn Sie Fragen haben.“ Das hatte ich gleich am nächsten Tag. Ein kurzes, freundliches Gespräch, eine Erklärung, eine Lösung, danach: „Immer sehr gerne.“ Rabatt bekam ich übrigens auch. Einzelhandel ist geil!

Radio Gaga

Ich bin in den kleinen Laden gegangen, um mir ein Hemd zu kaufen. Während ich die Auswahl an den Kleiderstangen durchblättere, läuft im Hintergrund unüberhörbar dass Radio. Zwei aufgekratzte Moderatoren spielen einen Titel kurz an und fragen: „Wer erkennt die Interpretin? Sofort anrufen unter …..holt euch die 500,- Euro!“ Ich will mich auf die Hemden konzentrieren, merke aber, wie mich diese Frage packt. Sie spielen den Titelfetzen noch mal. Ich kann es kaum glauben: das ist doch eindeutig Marianne Rosenberg mit „Er gehört zu mir“. (Wie der Schein zu mir, denke ich.) So leicht bin ich noch nie zu Geld gekommen. Ein Hörer ist auf Sendung und meint: „Mary Rose?“ Mann, ist der blöd. Der Moderator sagt: „Leider falsch. Aber jetzt alle zuhören – ich erhöhe auf 600.- Euro, heute Nachmittag auf eurem Konto, ruft an!“

Ich werde immer nervöser. Für 600.- Euro kann ich mir gleich jetzt ein Dutzend Hemden kaufen. Wahnsinn. Sie spielen den Titel noch mal an. Ich kann mich überhaupt nicht mehr konzentrieren, wühle fahrig in den Stoffen herum. „Ja, wer ist dran?“, fragt der Moderator. „Ich bin Lena aus Rostock. Den Titel singt…äh… Nicole?“ Nicole? Ja bist du denn völlig leer da oben, denke ich. Das tut ja schon weh. „Tut uns leid, Lena, leider nein“, bedauert der Moderator. Wieder spielen sie das Lied an und sagen: „Einem Anrufer geben wir noch eine Chance – ruft an!“ „Haben Sie die Nummer von Radio Brandenburg?“, schreie ich den Ladenbesitzer an. „Bitte? Worum geht´s?“, fragt er verdattert. „600,- Euro, Mann! 600.- Euro!“, brüllen ich ihn an und dann in Richtung Radio: „Marianne Rosenberg! Ma-ri-an-ne Ro-sen-berg!!“ Er schaut mich sonderbar an und fummelt an seinem Handy herum. Ich schreie: „ Marianne Roooosenberg! Mann! Das ist doch pipi-einfach! Marianne Rosenberg!!“, stürze nach draußen, klettere auf einen Tisch mit Sonderangeboten und wedele mit einem karierten Hemd herum. Es muss mich doch jemand von Radio Brandenburg sehen. „Marianne Rosenberg!! Er gehört zu mir! Rosenberg! Marianne!“, gröle ich wie von Sinnen. Als mich die Sanitäter fest fixiert in den Krankenwagen verbringen, höre ich noch aus der Ferne eine Hörerin „Helge Schneider?“ antworten. Danach falle ich vor Schmerz in Ohnmacht.

Weiße Linien

Großes Jammern und Klagen herrschte unter den Menschen, weil ihnen in den Ländern und Städten der Verkehr über den Kopf gewachsen war. Ein wildes Durcheinander von ein-, zwei-, drei- und vierräderigen Fahrzeugen jeder Antriebsart verstopfte ihre Straßen, von den zwei- und vierbeinigen Verkehrsteilnehmern mal abgesehen. Also beteten sie: „Lieber Gott, wir waren dem immobilen Rausch verfallen, haben zu kurz gedacht und falsch geplant, nun wächst uns das Chaos über den Kopf, was sollen wir tun?“ Gott, der immer zwei offene Ohren hat, gab ihnen einen Eimer mit weißer Farbe und einen Pinsel und sagte: „So gehet hin und markieret zügig eure Straßen, damit jeder seinen rechten Weg findet.“ Also geschah es. Fortan durchzogen weiße Linien wie Spinnennetze kreuz und quer die Lauf- und Fahrwege, durch die Millionen Verkehrsteilnehmer nun fürsorglich geleitet und optimal geschützt sicher ihr Ziele erreichten. Die Deutsche Verkehrswacht hat die Weiße Linie für den Oscar in der Kategorie „Traffic-Harakiri“ nominiert.