Wie schön ist der denn?
Man nennt ihn „Ruhestand“, den ersehnten Zeitpunkt, ab dem man nicht mehr um 6 Uhr morgens bei Wind und Wetter aus dem warmen Bett muss, um in vollen Verkehrsmitteln und auf ebensolchen Straßen mit müden Menschen gemeinsam zur Arbeit zu fahren. Aber, wie ich beobachtet habe, wirklich ruhen tut keiner von denen, der diesen „Ruhestand“ erreicht hat, im Gegenteil, er wendet sich jetzt nämlich intensiv einem Objekt zu, das ihm von Geburt an bekannt ist, für das er aber in Anbetracht anderer Dringlichkeiten, wie Sex, Alkohol und Schweinshaxen, viel zu wenig Zeit hatte: seinem Körper. Plötzlich entdeckt er Organe, von denen er vorher gar nicht wusste, dass er sie hat. Er identifiziert Gliedmaßen, Muskeln, Haut, Fältchen, Flecken, Schwellungen, Verfärbungen, die ihm erst mal fremd vorkommen, nun aber seine ganze Aufmerksamkeit erhalten.
Plötzlich empfindet er Schmerzen, die während seines Arbeitslebens keine Chance hatten, auf sich aufmerksam zu machen. Schon mit dem Aufwachen steuert er mit Augenmuskelübungen, Dehnungen, Streckungen und Salbungen dagegen an. Anschließend holt er Berge von Prospekten aus seinem Briefkasten, Angebote von fürsorglichen Medikamentenherstellern, die ihre aus dem Wunder der Natur gewonnenen Nahrungsergänzungsmittel preisen und ihm Erlösung, zumindest Erleichterung jedweder Leiden versprechen. Für ihn auch ein Wunder, woher die wussten was gut für ihn ist und vor allem seine Adresse hatten. Auch auf YouTube strecken und dehnen ihm jetzt körperkundige Physiotherapeuten etwas vor und lockern seine Faszien und Sehnen. Endlich gelingt ihm beim Autofahren wieder der „Radfahrerblick“ und er kann sich ohne fremde Hilfe sein Gesäß kratzen. So schön hatte er sich den Ruhestand nicht vorgestellt. Sehr schade eigentlich, dass er erst im Alter kommt.