Onkel Doktor
Du sitzt schlaff vor ihm auf dem Stuhl und er starrt aufrecht auf seinen Computer. Du bist unruhig, schwitzt, knetest dir die Finger, versuchst in seinen Augen zu lesen, was er gleich zu dir sagen wird. Ist es erlösend oder bedrohlich? Geht es für dich weiter oder dem Ende zu? Die Spannung ist fast unerträglich, du hast nackte Angst. Warum spricht er nicht? Warum zuckt er mit der linken Augenbraue? Warum kratzt er sich plötzlich das Kinn? Ein Signal? Weiß er nicht, wie er es dir sagen soll? Fehlen ihm die Worte? Schiebt er dir jetzt diskret die Visitenkarte vom Bestattungsinstitut rüber? Oh, Gott, steh mir bei, vielleicht trete ich auch wieder in die Kirche ein, nur, bitte verschone mich. Da, er räuspert sich und sagt: „Sieht ja alles ganz gut aus, nur der Cholesterinspiegel ist bisschen zu hoch.“ Rumms! Ein Felsen poltert zu Boden. Noch mal gut gegangen – bis zu nächsten Vorsorgeuntersuchung.
Nirgendwo ist der Mensch so kleinlaut und ergeben, wie beim Arzt oder bei einer Ärztin. Die mögen von Geburt an reichlich oder weniger charakterliche Defizite haben, aber wer in der Schule schön fleißig war und aus der Klassenarbeit keine Papierflieger bastelte, der konnte Onkel oder Tante Doktor werden und anderen eines Tages sagen, was bei ihnen undicht oder defekt ist. Das kann der Installateur auch, allerdings genießt er nicht annähernd diese gesellschaftliche Wertschätzung wie eine Ärztin oder ein Arzt. Ein sauberes Abflussrohr ist halt keine Arterie.
Kein anderer rückt dir so auf die Pelle wie diese Mediziner, keiner kann dich so intim fragen oder in dich eindringen und deine Lebensweise beeinflussen wie sie. Mein Augenarzt hat mir mal nach einem Unfall die Diagnose erläutert, ich lauschte glasig seinen fachworttriefenden Worten und das lag nicht nur an den Tropfen, die er mir vorher verabreicht hatte. Als mich meine Familie fragte, was ich denn nun hätte, konnte ich nur „Keine Ahnung, irgendwas mit Auge“ sagen.
Ich war den Ärzten immer völlig ausgeliefert und ergeben, so, wie ich den Kniefall vor den „Göttern in Weiß“ von meinen beiden kreuzbraven Eltern geerbt habe. Das hat sich mit meiner Lebenserfahrung und einem inflationären Niveauabfall bei den Abiturienten jedoch geändert. Als letztens ein Freund stolz „Unser Valentin will Arzt werden“ zu mir sagte, konnte ich nur fragen: „Ach? Zum Zimmermann hat´s wohl nicht gereicht?“