Die Arbeit nicht erfunden

Für meine Eltern war ich einfach da. Ich war ihr Zweitgeborener und gehörte mit Fleisch und Blut in unsere Familie. Diese Selbstverständlichkeit hatte manchmal zur Folge, dass sie gar nicht mehr merkten, dass ich anwesend war.

Ich saß also jeden Abend mit ihnen am Tisch, um eine gemeinsame, warme Mahlzeit einzunehmen und hörte stumm zu, was sie alles erzählten. Meine Mutter sprach vom Seifenhändler, der seine Kundinnen politisch indoktrinierte („Die Russen kommen!“), mein Bruder von seinem Fahrrad („Je härter der Sattel, umso besser.“) und mein Vater aus seinem Berufsleben („Die Hübner hat´n Verhältnis mit dem Klingbeil.“). Keiner fragte mich nach meiner Lehrerin („Schönen Mund.“), es interessierte keine Sau.

Am Ende des Schuljahres würden sie ja alles sowieso auf meinem Zeugnis lesen. Als Familienoberhaupt stand meinem Vater auch die meiste Redezeit zur Verfügung und die nutzte er ausgiebig, um sich zum Thema „Arbeit“ auszulassen. Was ich sofort verstand: er war der einzige Mensch auf der Welt, der wirklich richtig arbeitete. Sein Bruder hingegen hatte die Arbeit nicht erfunden und sein Schwager wusste gar nicht, was Arbeit ist. Von seiner Schwester wollte er gar nicht reden, die war, als der liebe Gott die Arbeit verteilte, nämlich sofort auf die Toilette geflüchtet. Sämtliche Menschen, außer meinem Vater, drückten sich also vor der Arbeit. Was ich auch noch am Abendbrottisch begriff, war seine subjektive Selbstwahrnehmung. Gut, ich war noch klein, hatte aber zwei wache Augen und die hatten längst erkannt, dass mein Vater sich wahrlich nicht kaputt machte. Er war Steuerberater und arbeitete die halbe Woche zu Hause, wo es, wenn er Bilanzen machte, in der Wohnung mucksmäuschenstill sein musste und meine Mutter ihm auf Filzpantoffeln und demütig gebeugt ein Tellerchen mit Wurstscheiben neben seine Schreibmaschine schob.

An den anderen Tagen besuchte er seine Mandanten, die mir – als ich nach seinem Tode an seinem Grab stand – kondolierten und einhellig von ihm schwärmten: „So ein fröhlicher Mensch, er hatte immer Zeit für ein Schwätzchen mit Kaffee und Kuchen.“ Später drang noch an meine Ohren, dass Vaters Bruder der Ansicht war, mein Vater hatte die Arbeit nicht erfunden und der Schwager meinte, dass mein Vater gar nicht gewusst habe, was Arbeit sei. Meine Tante, also Vaters Schwester, hatte noch hinzugefügt, dass ihr Bruder, als der liebe Gott die Arbeit verteilt hatte, rechtzeitig aufs Klo geflüchtet war. Ich konnte förmlich hören, wie mein Vater sich im Grabe umdrehte.