Food-City

„Immer geradeaus, und dann den zehnten Gang, direkt am Maggi-Center links, und an der Kreuzung, beim großen Coffee-Tower, rechts. Danach den zweiten Gang, direkt am Dressing-Corner wieder links. Dann sehen Sie schon.“ Ich bedanke mich und fahre meinen Einkaufswagen in die empfohlene Richtung, biege aber einen Gang zu früh ab und lande in der Pasta-Street. Nach gefühlt Millionen Nudeln erreiche ich eine Abzweigung in Richtung Milki Way. Am Asia-Food-Circle nehme ich die zweite Ausfahrt, lande direkt im Bio-Park und verlasse ihn am Veggie-Garden. Endlich erreiche ich die Cooler-Highway mit den Hunderttausend Joghurtbechern und lege eine Mango-Papaya-Töpfchen in meinen Wagen. Wegen erhöhten Verkehrsaufkommens bei den Sonderangeboten wähle ich den Umweg über den Hot-Spot mit den scharfen Gewürzen und lande wieder bei der freundlichen Frau von vorhin. „Na? Alles gefunden?“, fragt sie. „Ja“, sage ich glücklich reiche ihr meine Come-Back-Card.

Anlage

Es ist ruhig im Supermarkt, ich schiebe meinen Einkaufswagen zur Kasse und lege die Waren auf das Laufband. Im flotten Tempo scannt die Kassiererin alles ein und sagt freundlich:„Einunddreißigvierzig.“ Ich hole meine EC-Card heraus, starre auf das Kartengerät und frage doof: „Was muss ich tun?“ Sie antwortet „Ranlegen oder reinstecken, wie Sie wollen.“ Kurze Pause, dann grinst sie und fängt an zu kichern. Die Kollegin an der Kasse gegenüber tut es auch – und ich kann nun ebenfalls nicht anders und pruste los. Bin ich gerade dass Ziel weiblichen Sexismus geworden oder einfach nur zweier phantasiebegabter, humorvoller Frauen, die rollenentspannt über die bildliche Komik des Wortes „anlegen“ lachen können? Ich jedenfalls amüsiere mich bei dieser Vorstellung noch köstlich als ich schon draußen bin. Ist ja genau mein Humor. An der Ausgangstür lese ich: „Schön, dass Sie da waren.“ Finde ich auch.

Verlassen

Worst Case Szenario: mein Internetzugang streikt. Vor einer Stunde noch war ich drin, nun diese rote Warnlampe an meiner Fritz Box.

Heißt, ich bin draußen, ein Ausgestoßener aus dem digitalen Paradies. Ich tue, was ich gelernt habe: Stecker ziehen, dreißig Sekunden warten – und wieder rein. Das berühmte Reset. Normalerweise funktioniert das, aber nicht heute. Warum elektronische Bauteilchen plötzlich den Wunsch verspüren, dich zu ärgern – ich verstehe das nicht. Aber ich verstehe ja vieles nicht. Also ziehe ich alle Stecker raus, die sich im Raum befinden. Ein Versuch. Nix. Ich stelle nebenbei fest, dass auch mein Telefon nicht mehr funktioniert. Aha! Man hat sich gegen mich verschworen. Wahrscheinlich die Achse Merkel-Schwan-Drosten-Gates.

Ich rufe über mein Handy einige Nachbarn an, ob sie gleiche Boshaftigkeit erfahren. „Nö, bei uns ist alles in Ordnung.“ Warum klingt das immer so ein klein wenig hämisch? Ich ziehe noch mal alle Stecker raus, sogar den von der elektrischen Zahnbürste und dem Nasenhaarschneider. Ein Versuch. Ohne Erfolg. Da sitze ich nun, schlagartig arbeitslos. Mein elektronisches Zeichentablett ist schwarz wie die Nacht. Tot. Es gibt Schlimmeres, sage ich mir und gehe raus an die frische Luft, bisschen spazieren, aber in meinem Kopf dreht sich alles um dieses Problem. Er wird nicht frei. Wieder zurück, kontaktiere ich einen örtlichen Fachmann. Er rät mir, mal den Stecker zu ziehen und drei Minuten zu warten. Ziehen kenne ich, drei Minuten sind mir neu. Also daran liegt es, ich muss der Technik mehr Zeit lassen zur Erholung. Ich ziehe also wiederum die Stecker und zähle bis 180. Und? Nix. Ich rufe noch mal den Fachmann an. Er ruft mal bei meinem Anbieter an, sagt er. Mir ist das recht, denn bei technischen Fragen stelle ich mich generell gerne blöd an.

Der Anbieter weiß nichts von einer Störung in meinem Bereich, nein, alles okay. Schade. Ich spüle also das erstaunte Geschirr, räume einen entsetzten Schrank auf, putze meine verschreckten Schuhe und die verstörten Fenster, schneide mir die verdutzten Fußnägel und koche mir anschließend Spaghetti. Hab ja Zeit. Ab und zu besuche ich meinen trostlosen Arbeitsplatz und rede mit ihm über die guten alten Zeiten. Gegen 16:30 Uhr halte ich es nicht mehr aus, ich rufe – persönlich! – bei meinem Internetversorger an. In der Warteschleife esse ich einen Obstsalat und lasse mir von einer sanftmütigen, mich um Geduld bittenden Frauenstimme die Ohren spülen. Dann endlich: „Guten Tag, mein Name ist Melanie, was kann ich für Sie tun?“ Ich danke Gott und Melanie und klage ihr mein Leid. Sie ist freundlich und warmherzig, macht meinen Kummer zu ihren. Ich würde jetzt gerne meinen Kopf auf ihre starke Schulter legen. „Na, dann schaue ich mal nach ihrem Anschluss“, sagt sie fürsorglich und vermittelt mir ein mütterliches Gefühl von Geborgenheit. Stille. Sie schaut. Ich warte und stoße säuerlichen Apfelgeschmack auf. Dann höre ich sie einen erstaunlichen Satz sagen: „Ich sehe gerade, wir haben heute Vormittag bei Ihnen was umgestellt.“

Er hallt lange in mir nach. „Und warum hat man mich nicht vorher davon informiert?“ möchte ich formulieren, werde aber meine Mutti nicht mit patzigen Fragen verletzen, niemals. Sie führt mich weiter einfühlsam wie einen Blinden durch diverse Menüs, bleibt auch bei meinen blödesten Fragen und Kommentaren geduldig und wartet sogar endlose Minuten, die ich benötige, um in meinem Chaos ein Passwort zu finden. Dann ist es so weit, ich bin wieder drin, ich gehöre wieder dazu! Ich sage: „Ich liebe Sie.“ Sie mich auch, meint sie. Wir trennen uns schweren Herzens, weil sie leider Feierabend machen muss. Im Überschwang meines Glückes bestelle ich mir anschließend bei Amazon schwarze Herrensocken, Größe 44/46, im Dreierpack. Bestimmt von minderjährigen Chinesen gestrickt. Scheiß drauf, man muss sich auch mal was gönnen.

Willkommen!

Besuch, das klingt nach Wiedersehensfreude und Herzlichkeit und alte Freunde wieder mal innig in den Arm nehmen, sie zu verköstigen, viel zu fragen, viel zu erzählen. „Besuch ist wie Fisch, nach drei Tagen stinkt er“, heißt es. Nicht dieser Besuch, niemals. „Fühlt euch wie Zuhause“, sage ich und meine es so. Frank nimmt das wörtlich und breitet erst mal sein Rasierzeug im Bad aus. Anika hängt unseren Garderobenständer mit ihrer Kleidung voll und stellt ihre Pantoffeln in die Diele. Sie schlafen lange und frühstücken noch, während unsere Kaffeetassen längst gespült sind. Frank latscht gerne noch in ausgeleierten Unterhosen herum, während Anika endlos duscht und sich anschließend mit einem turmhohen Badehandtuchturban an den Tisch setzt. Er schlürft laut seinen Kaffee, sie popelt sich aus den Brötchen den Teig heraus. Danach raucht er draußen eine Zigarette, während sie mit Yoga die Sonne begrüßt. Sie verträgt keine Tomaten und Zwiebeln, er mag kein alkoholfreies Bier und geschlossene Fenster. Sie wäscht ungern ab, er stößt gerne auf. Nach einer Woche fahren sie wieder. „Kommt bald wieder“, flehen wir. Seine ungepflegte elektrische Zahnbürste schicke ich ihm mit der Post nach.

Paris?

Vor ein paar Tagen bekam ich eine Nachricht von einem lieben alten Freund aus jungen Tagen. Wir hatten früher Jahre lang zusammen Musik gemacht, in Berlin, außerhalb von Berlin, niemals aber über die Grenzen unserer Republik hinaus. Zwar hatte unserer Manager – ja, wir hatten einen umtriebigen Manager, um den uns unsere Konkurrenten in der Szene schwer beneideten – ständig versucht, mit allen Tricks in die Presse zu kommen und gelogen, das sich die Lettern bogen, u.a. von einer Anfrage des Managers der Beatles, Brian Epstein, bezüglich eines Auftritts unserer Band in London, aber es war alles Fake.

Nun also schrieb mir mein Freund: „Ich könnte mir heute nicht mehr vorstellen – wie damals, als wir in Paris waren -, noch mal auf den Eifelturm zu gehen. Komme ja nicht mal mehr drei Stockwerke hoch.“ Mir wurde ganz anders. Nicht etwa, weil ich mich selber fragte, ob ich heute noch mal auf den Eifelturm gehen könnte, sondern ganz generell: Wann waren wir mit der Band jemals in Paris? So sehr ich auch meinen Kopf anstrengte, in alten, verstaubten Zellen wühlte, ich fand keine Bilder mit der Band in Paris. Da war nichts, gar nichts. Aber alle älteren Menschen kennen das, manche sogar schon aus der Schule: man ist vergesslich. Dieser oder jener Name fällt einem nicht mehr ein, Orte, Zeiten, Musiktitel, Musiker, Schauspieler, verdammt, wie hieß der, der, mit dem, dem, der bei, bei….? Bye, bye, Erinnerung.

Nun muss nicht alles gleich ein bedrohliches Symptom sein, man hat ja voll umfänglich mit Corona wirklich genug zu tun, aber Sorgen machte ich mir schon. Warum habe ich vergessen, dass ich mal auf´m Eifelturm war? So was macht man ja auch nicht alle Tage so nebenbei. Womöglich war ich damals auch mal auf dem World Trade Center oder mit der Band zu einem Open Air Konzert auf dem Roten Platz in Moskau? Oh, Gott. Ich konsultierte einen weiteren Überlebenden aus unserer Band, der aber konnte sich, zu meiner Erleichterung nach längerem Nachdenken, auch nicht dran erinnern, dass wir mal in Paris waren. Also antwortete ich meinem Eifelturmbesteigerfreund: „Hä? Wann waren wir denn mal in Paris?“

Als Antwort erhielt ich: „Na, jetzt geht´s ja los.“ Er war in Paris uns ist zu Fuß den Eifelturm hoch und zwar mit unserem Manager. Definitiv! Zum Glück hatte ich damals in den Bandzeiten jeden Artikel eingeklebt, in dem was über die bombastischen Auftritte unserer Gruppe stand: „Teambeats bringen den Schülerball zum Kochen!“ „Teambeats rocken den Schützenhof!“ Und dann, ich traue meinen Augen nicht, finde ich einen großen Artikel mit Foto von mir vor dem Flughafen Tempelhof. Überschrift: „Peter Butschkow in Paris!“ Und los ging es mit: „Nach der Landung in Orly wurde der Bandleader der Teambeats von zwei bildhübschen Französinnen begrüßt…“ Also, ich würde mich sogar noch an eine einzige bildhübsche Französin, erinnern, meine ich. Tut mir leid, ich kannte weder, noch „hatte ich“ jemals eine Französin. (Was ich immer sehr schade fand.) Mein alter Freund kam auch nicht zur Ruhe, „Bin ich denn jetzt ganz blöd?“, lautete seine Selbstanfrage. Wir waren beide spürbar schwer verunsichert, aber umso mehr ich den Artikel las, in dem ich offenbar eine Nacht mit Johnny Hallyday gesoffen hatte und am Ende mit Brigitte Bardot im Bett landete, desto mehr erinnerte ich mich: es war alles erstunken und erlogen. Der Manager („Ist doch wurscht. Fragt kein Mensch nach. Hauptsache die Band ist in der Presse.“) wollte mit mir nach Paris, um beim ORF unsere neue Platte vorzustellen – aber ich wollte nicht. Hatte Angst vor´m Fliegen und vor der Rache meiner Freundin.

Dafür ist dann tatsächlich mein Freund und Gitarrist eingesprungen. Puh! Nun hatten wir´s. Der schrieb mir dann noch, er hätte in Paris kein Wort verstanden, wäre tatsächlich den Eifelturm hoch (garantiert nur bis zum Restaurant) und hätte sich nach einem Steak die ganze Nacht im Hotelzimmer erbrochen. Am nächsten Morgen seien sie wieder zurück nach Berlin geflogen. Jetzt konnte ich mich auch wieder dunkel daran erinnern, wie schlecht er damals nach seiner Rückkehr aussah. Er sich natürlich überhaupt nicht.

Edelbitter

Mein Einkauf ist auf dem Laufband an der Kasse. Banane – Piep! – Blumenkohl – Piep! – Milch – Piep! – Nudeln – Piep! – diverse weitere Pieps werden von der Kassiererin über den Scanner gezogen. Sie lässt die eingescannten Artikel der Reihe nach zur Ablagefläche runterrutschen, wo ich sie in fließender Bewegung in Empfang nehme und in meinen Einkaufwagen lege.

Hä? – denke ich, was ist das denn? Eine Packung „Schwarze Herrenschokolade, Edelbitter, hauchdünn“? Hab ich nie gekauft. Ich hasse Edelbitterschokolade. „Täfelchen“, lese ich, ach wie süß. „Mit 60% Kakao“, steht auch noch drauf. Auch mit 100% Kakao, nein, nochmals nein! Also sage ich freundlich aber bestimmt: „Diese Edelbitterschokolade gehört aber nicht mir.“ „Lag aber bei Ihrem Einkauf“, antwortet die Kassiererin, eine muskulöse Blondine, mit der man sehr gerne friedlich auskommen möchte.

Ich blicke zurück zur Kundin, eine junge Frau hinter mir, sie hat nur zwei Kosmetikartikel auf dem Band und schaut weg. „Verzeihung“, rede ich sie an, „gehört die Schokoladentafel vielleicht Ihnen?“ „Mir?“, fragt sie verdutzt, „nein, würde ich niemals kaufen, ich hasse Edelbitterschokolade.“ „Aber irgendjemand muss mir doch diese Tafel in meinen Wagen gelegt haben?“, bemerke ich. „Wie meinen Sie das?“, fragt mich die junge Frau. „Nein, bitte, ich möchte Ihnen nichts unterstellen“, antworte ich, „aber vielleicht haben Sie das unbewusst getan?“ Sie starrt mich an. „Sie meinen, die Edelbitterschokolade aus der Kosmetikabteilung in meinen Wagen gelegt? Steht vielleicht „Gut für die Haut“ drauf?“, fragt sie spitz. „Schokolade befeuert positive Botenstoffe im Körper und die wiederum sind folglich auch gut für die Haut. Durchaus ein komplexer Zusammenhang. Also? Warum nicht? Ganz unbewusst?“, gebe ich zu bedenken. „Noch bin ich klaren Geistes, guter Mann“, antwortet sie scharf und ich denke kurz, woher weiß sie, dass ich ein guter Mann bin?

Inzwischen haben sich weitere Kunden in die Schlange vor der Kasse eingeordnet und fragen sich spürbar, warum es da vorne nicht weitergeht. Auch die Kassiererin wird ungeduldig. „Aber alle weiteren Artikel die Sie gekauft haben, sind so weit okay? Nur, damit ich mich entspannen kann“, sagt sie. „Alle wunderbar, nur diese Edelbittertafel nicht“, antworte ich „Die habe ich nun aber bereits eingegeben“, sagt sie mit frostigem Unterton. „Können Sie das nicht draußen weiter diskutieren?“, kommt eine Stimme aus der Schlange. „Möchte jemand von Ihnen vielleicht eine Tafel Edelbitterschokolade?“, rufe ich. Da meldet sich eine alte Oma aus der Schlange an der Kasse nebenan: „Ha! Sie haben meine Schokolade genommen? Unerhört! Ich wundere mich schon die ganze Zeit, wo denn die Tafel Edelbitter ist?“ „Sie stehlen alten Damen die Artikel aus dem Einkaufswagen?“, herrscht mich die Kassiererin an. „Und verleumden die Kundschaft“, ergänzte die junge Frau. „Polizei!“, keift jemand, da stürze ich schon fluchtartig nach draußen. „Wir wissen wo du wohnst!“, höre ich noch aus der Ferne.

Das Signal

Vor einiger Zeit sprach mich Frau Hansen, meine Nachbarin, an. Als ältere, allein lebende Dame und mache sie sich Sorgen, dass keiner merken würde, „wenn mit mir mal was passiert ist“. Eine Bekannte sei unlängst gestürzt und hätte zwei Tage hilflos in ihrer Wohnung gelegen, bevor sie jemand gefunden habe. „Sollten meine Vorhänge im Schlafzimmer bis 9:30 Uhr nicht aufgezogen sind, dann stimmt etwas nicht mit mir“, sagte sie zu mir. „Eine gute Idee, dann weiß ich Bescheid“, antwortete ich. Drei Monate später schaue ich an einem Samstagmittag zufällig zu ihrem Haus herüber und sehe, dass ihre Vorhänge noch zugezogen sind. Eine Viertelstunde später rücken Polizei, Feuerwehr, Notarzt, das Technische Hilfswerk, ein Minenräum-kommando und – für den Fall einer Geiselnahme – das SEK an. Die Einheit stürmt das Haus und sichert dem Bereitschaftsarzt den Zugang zur Zielperson. Sanitäter tragen die festgeschnallte, medizinisch notversorgte Frau Hansen auf der Trage zum Krankentransporter. Am späten Morgen klopft sie putzmunter an meine Tür, reicht mir einen selbstgebackenen Kuchen und bedankt sich herzlich: „Wie beruhigend, so einen aufmerksamen Nachbarn zu haben.“ Ihr sei überhaupt nichts passiert, sie wollte mich nur mal testen.

Wandel

ALDI begrüßt mich am Eingang mit: „Schön, dass du da bist.“ Der STERN textet auf der ersten Seite: „Danke, dass Sie den STERN lesen.“ Der Baumarkt schreibt: „Ohne dich geht gar nichts.“ Bitte? Was ist denn da draußen los? Von der Arroganz zur Schleimerei? Ist das die Reaktion auf die massiven Marktveränderungen und die neuen, digitalen Anbieter, die den Kunden zum Kaiser erkoren haben? Die liefern uns nämlich inzwischen die Unterwäsche direkt ins Schlafzimmer, begleiten uns per Webcam bei der Anprobe und nehmen alles, was uns nicht passt oder gefällt, anstandslos – ob neu oder gebraucht – zurück. Je nach Wunsch scannen sie unsere Figur ein und machen eine maßgenaue 3D-Animation alternativer Modelle, die exakt unserem Geschmack entsprechen. Ja, geht´s noch besser? Leute, das ist Kundenfreundlichkeit! Davon war man früher in der Dienstleistung Lichtjahre entfernt. Gestern ging ich in Regen und Dunkelheit deprimiert nach Hause, da las ich auf der Werbetafel einer Bushaltestelle die Botschaft eines Nagelstudios: „Schön, dass es dich gibt.“ Ich war danach schlagartig in besserer Stimmung. Danke, neue Zeit.

Geschmacksache

Einen Mann wie meinen Freund Rainer, hätte Karl Lagerfeld persönlich erschossen. Nun war Karl der Große ja auch eine modische Ikone, Gottvater des geschneiderten Fadens. Ich würde zu gerne dabei sein, wenn Rainer morgens vor seinem Kleiderschrank steht und darüber nachdenkt, was er anzieht. Was geht da in seinem Kopf vor? In welchem verrückten, neuronalen Prozess entwickelt sich seine Entscheidung für die Wahl seiner Kleidungsstücke? Ist es ein Spiel? Entscheidet er sich mit verbundenen Augen? Das Resultat ist auf jeden Fall grauenvoll, mit tödlicher Sicherheit schreit jeder, der nur über einen Hauch von Geschmack verfügt: „Nein!!!“ Nicht Rainer. Er ist völlig schmerzfrei, greift zu und zieht an, was seine Hand gerade erwischt. Ein Beleg schlimmster Unterwerfung, dass seine Extremitäten nicht den Mut haben, sich solchen Stoffen zu verweigern. Wir alten Freunde haben längst aufgegeben und wundern uns über keine seiner Scheidungen mehr. Nur eine Blinde würde es länger mit Rainer aushalten. Unvergesslich, als wir mit unserer Clique nach Schweden in ein Haus am See gereist sind. Am ersten Morgen ging Rainer in einer gestrickten Badehose baden, die Fotos davon liegen sicher in einem Stahltresor.

Ich persönlich habe Zeit meines Lebens ein Faible für Karos, vermutlich bin ich schon kariert auf die Welt gekommen. Kombiniert mit einer Jeans war ich stilistisch damit immer auf der sicheren Seite. Holzfäller-Look ist wohl nicht jedermann/fraus Sache, auf jeden Fall aber zeitlos und Bäume gibt´s immer. Im Bewusstsein meiner modischen Solidität hatte ich gestern eine Fußbekleidungsfrage zu lösen. Solche sporadischen Unsicherheiten kommen immer mal wieder vor, jeder kennt sie: Welche Socke passt zu diesem Schuh? Randvoll mit Scham und Schuld muss ich beichten: es ging um Sandalen. Solcherart Fußbekleidung, die wir von Jesus und Ben Hur kennen, das Sommerfußleder und nationale Identifizierungsmerkmal aller deutschen Männer im Ausland. Aber verdammt, dieses Teil ist einfach so bequem, sogar meine Riesenfüße stoßen darin nirgendwo an.

Genau aus diesem Grund besitze ich ein Paar Sandalen und trage sie eigentlich nur in mondlosen Nächten, in diesem Moment aber, auch wegen der sommerlichen Hitze, wollte ich meinen Füßen ausnahmsweise tagsüber mehr Luft gönnen. Warum ich sie aber noch in Socken stecken musste, kann ich eigentlich nur damit erklären, dass ich keine schönen Füße habe. Finde ich jedenfalls. Kurzum, ich entschied mich, trotz leichten Unbehagens, für weiße Socken. Offenbar hatte ich in diesem Moment die Kontrolle über mein Leben verloren. Als ich damit auf die Straße trat, hatte ich das Gefühl, alle Menschen tuschelten und starrten auf meine Füße. Ich schlich mich im Schatten der Hauswände zu meinem Lieblingscafé. Es war rappelvoll, alle Tische vor der Tür waren dicht besetzt. Mittendrin Anton, der homosexuelle Wirt, ein feiner Mensch, der mit der Ausstattung und dem kulinarischen Angebot seiner Restauration einen Beweis kultiviertester Stilsicherheit und erlesenen Geschmacks dokumentiert hat. Sein Blick auf meine Füße wird mir unvergessen bleiben. In seinem Gesicht las ich blanke Abscheu, sowie aufsteigende Übelkeit und einen massiven Absturz seiner Wertschätzung mir gegenüber. So viel Zeche kann ich zu Lebzeiten gar nicht mehr bei ihm machen, um meinen Ruf wieder herzustellen.

Taschenspiele

Einkaufspassagen stehen bei mir auf der Hass-Skala gleich hinter Badestrand, aber es hilft nix, ich brauche dringend mal wieder ein neues Hemd. Also betrete ich mit tiefer Abscheu einen dieser Konsumtempel. Von leiser Musik umspült schleiche ich missmutig an blitzeblanken Glasfassaden vorbei und versuche in dem Meer von Stoffen und Farben ein Signal meines Wunschhemdes zu erhaschen. Warum habe ich immer den Eindruck, dass in allen Boutiquen das Gleiche hängt? Irgendwann hole ich tief Luft und schreite durch die verlockend weit geöffnete Pforte eines Ladens. Scheu streiche ich in an Hemdenkollektionen vorbei, begrapsche dieses und jenes Hemd – und weiß nicht. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragt eine Verkäuferin. Lass mich in Ruhe, du blöde Kuh, denke ich und sage: „Danke, sehr freundlich, ich schau mich nur um.“ „Schauen Sie sich nur um“, wiederholt sie. „Nur mal umschauen“, bekräftige ich und blättere durch eine Reihe einfarbiger Hemden. Ups, denke ich, das könnte was sein. Hellgrau, XL, flauschiger Stoff. Ich liebe warme Hemden. „Ziehen Sie´s doch mal an“, meint sie.

Oh, wie ich auch das hasse. Enge Kabine, ausziehen, die Klamotten linkisch über einen Haken wurschteln, das neue Teil anziehen, raustreten und in einen Spiegel schauen. Alle anderen Anwesenden im Geschäft glotzen auch und begutachten unaufgefordert meine Wahl. Sucht euch gefälligst euer eigenes Hemd, ihr Affen. „Na, das passt doch“, sagt die Verkäuferin. „Im Prinzip schon…aber das sind doch keine Taschen“, sage ich und stochere demonstrativ mit meinen Fingern in den beiden fipsigen Brusttaschen herum. „Viel zu klein“, ergänze ich, „da bekomme ich doch keine Brille und keinen Kugelschreiber rein.“ Eigentlich kann man dieser fundierten Kritik nichts entgegensetzen. Irrtum. „Ich bitte Sie, das sind doch nur Accessoires“, sagt sie spitz. Offenbar bin ich einer der Letzten einer aussterbenden Spezies, die in die Taschen ihrer Hemden etwas hineinstecken möchte? Wie pervers bin ich denn? „Accessoires?“, frage ich noch mal nach. „Nur Accessoires“, spricht sie noch einen Hauch französischer, „eine Zierde.

Wenn überhaupt was reinstecken, dann nur für Kleinigkeiten.“ Zum Beispiel?“, will ich wissen. Sie holt tief Luft: „Nun, also…“. „Büroklammern?“, unterbreche ich sie, „oder vielleicht einen Hustenbonbon?“ Sie flötet gereizt: „Wie Sie meinen.“ Ich gebe nicht auf: „Hat nicht der Erfinder der Brusttaschen sie genau deswegen erfunden, damit man etwas hineinstecken kann?“. „Dafür gibt es ja Rucksäcke“, antwortet sie spitz. Ich kontere: „Wer trägt denn seine Brille im Rucksack?“. „Ich brauche keine Brille.“ „Sie sollen das Hemd ja auch nicht kaufen“, entfährt es mir. Ihre Lippen werden ganz schmal. „Schauen Sie“, sage ich, zeige auf die beiden großen Taschen auf meiner Brust und mime den Crocodile Dundee, „das ist ein Hemd! Da geht alles rein. Links Brille und FFP2-Maske, rechts Kugelschreiber, Filzschreiber und Diktiergerät.“ „Und der Regenschirm? Kein Platz mehr?“, fragt sie giftig. Angefixte Frauen können richtig witzig sein.