Gratuliere!

Er öffnet die Tür und starrt mich noch völlig verschlafen an. „Mann, es ist kurz nach acht Uhr, wer bist du denn?“ Ich trete höflich aber energisch in seine Wohnung. „Junge, hier sieht´s ja aus“, sage ich und schiebe mit dem Fuß eine Socke zur Seite. Er gähnt und glotzt mich ungläubig an. „Du bist doch mein Facebookfreund“, sage ich feierlich, „und hast heute Geburtstag, oder ist das falsch?“ Er kratzt sich die Brust und grummelt „Ja, schon, aber….“. „Na, dann, herzlichen Glückwunsch“, jauchze ich und schließe ihn in meine Arme, „ich dachte, komm mal rechtzeitig, da freut er sich.“ „Hä?“, fragt er und kratzt sich seine Bartstoppeln. „Nicht kratzen, waschen“, bemerke ich vergnügt. Er brummt unverständlich. „Hilf Timo, heute seinen Geburtstag zu feiern, das stand heut morgen bei mir auf Facebook, mein lieber Freund. Und hier bin ich!“, rufe ich fröhlich. „Bitte?“, fragt er immer noch leicht verwirrt. Ich zeige auf meine Tasche. „Hab alles dabei“, sage ich, „Girlanden, Kerzen, Nudelsalat und ´ne leckere Nachspeise.“ „Ich wollte doch gar nicht feiern“, stammelt er. „Na, na, nicht so bescheiden“, sage ich und mache mich auf in Richtung Küche, „hab auch ´ne hübsche Tischdecke dabei.“

TV-Blutprogramm vom 16.- 22.1.2021 (auszugsweise)

Bauarbeiter finden eine verweste Leiche im Haus (ARD). Bauarbeiter erschlagen aufgefunden (DAS ERSTE). Brutaler Mord in der Schwulenszene (WDR). Eine Prostituierte wird tot aus dem Hamburger Hafen gezogen (ZDF NEO). Ein Gemüsehändler wird erwürgt (S1 GOLD). Eine Lokaljournalistin wird ermordet (ZDF). Unter einem Brunnen entdeckt man zwölf Skelette (SRTL). In einem kleinen Ort werden übel zugerichtete Leichen angespült (SIXX). Greisin in den Tod gespritzt (ZDF NEO). In einem alten Bunker kommt ein Junge ums Leben (WDR). Die Suche nach dem Mörder der schwangeren Schülerin (NDR.) Ein Zwölfjähriger hat eine ehemalige Prostituierte ermordet (BR). Am hellen Tag wird in Portland eine junge Frau erstochen. (SRTL). Anita wird in einer Bank ausgeraubt, vergewaltigt und ermordet (RBB). Der Betreiber einer Golfanlage wird erschlagen aufgefunden (ZDF). Wer hat Annika die Kellertreppe runtergestoßen? (ZDF). Die sterblichen Überreste einer jungen Frau wurden nach einem Blitzschlag in der Gegend verteilt (VOX). Mörderische Dorfgemeinschaft (MDR). Zwei Fischer entdecken die Leiche einer jungen Frau in einem Boot (RBB). Ein grauenvoller Mord ruft Alice Avril auf den Plan (ONE). In einem eingeschneiten Hotel liegt eine Leiche in einem Zimmer (ARTE). Promisternchen Nicci stirbt an einem Stromschlag, ausgelöst durch einen Gesichtsbräuner, den jemand ins Badewasser warf (HR). Auf einer Rastplatztoilette wird die verstümmelte Leiche einer Frau gefunden (SAT.1). Mord an einer schwer misshandelten 16-jährigen (DAS ERSTE). Grausiger Leichenfund auf einem Ananasfeld (KABEL EINS). Die strenggläubige Ann wird von einem Mitglied ihrer Kirche vergewaltigt (VOX). Ritualmord an einer Glöcknerin (ZDF NEO). Ein Mitarbeiter entdeckt in einem Lagerraum die verwesenden Überreste einer Frau (S1 GOLD).
Gute Unterhaltung!!

Unvorstellbar

Es fällt mir immer schwerer, mir vorzustellen, wie wir eigentlich damals mit dem Leben klargekommen sind, als der Algorithmus noch nicht seine Weltherrschaft angetreten hatte? Wir sind echt in ein stummes Auto gestiegen, haben mit den bloßen Händen Scheiben heruntergekurbelt, Sitze mit Hebeln verstellt und sind ohne jedes elektronische Helferchen einfach auf die Straße gefahren? Einfach so. Ohne Navigation, Stauinformationen mit exakter Wartezeit und launigem Unterhaltungsprogramm, Warnungen vor Mausefallen, Reifendruckverlust, Müdigkeit, Hunger, Mundgeruch oder eingeschlafenen Beinen. Wir waren telefonisch und online unerreichbar und haben uns erst am Zielort wieder gemeldet – vorausgesetzt es gab eine Telefonzelle. Ansonsten schrieben wir halt eine Postkarte. Es ist heute auch unvorstellbar, dass Haus zu verlassen, ohne vorher auf die WetterApp zu schauen oder die Schadstoffbelastung der Luft, den Puls und die Atemfrequenz zu checken. Meine neue CodeApp sagt mir sogar, wann es für mich Zeit ist aufs Klo zu gehen und über meine DropApp bittet mich ein fürsorgliche Frauenstimme: „Du musst wieder trinken.“ Gestern bin daraufhin in eine Kneipe gegangen, nach dem dritten Bier kam ein hässlicher Warnton. Klang wie die Stimme meiner Frau.

Lachhaft

All meine Familienangehörigen, Freunde und Bekannten verlassen sofort den Raum, wenn ich mich in dieses Thema fast bis zur Raserei hineinsteigere, also bitte ich schon vorher um Entschuldigung und verstehe jeden, der es ihnen gleich tut und sofort aufhört zu lesen. Es geht um „die Deutschen“ und ihr Verhältnis zum Humor, der mir persönlich dabei längst vergangen ist und ich kann wirklich sagen, ich habe mich ehrlich um Verständnis bemüht.

Es ist schon eine Weile her, da habe ich zu diesem Thema bei Lappan ein Buch mit dem Titel „Lachtherapie“ veröffentlicht und versucht herauszuarbeiten, woran es liegen mag, dass wir Deutschen so ein ambivalentes Verhältnis zum Humor haben. Wir lachen wohl auch durchaus gerne, im Bewertungsportal allerdings erteilen wir dem Humor nur eine geringe Benotung. Ich zitiere Gerhard Polt: „Der Humor ist in Deutschland nichts wert.“ Ich muss immer sehr aufpassen, nicht ständig andere Länder zu verherrlichen, in denen es nach meiner Wahrnehmung völlig anders ist. Allerdings hat mal in Regensburg in einer Boutique eine bayerische Verkäuferin, als ich mit einer neuen Hose und offenem Hosenschlitz aus der Umkleidekabine trat, zu mir gesagt: „Wenn der Vogel tot ist, kann man den Käfig ruhig offen lassen.“ Also, es geht doch.

Man kann man ja auch nicht sagen, dass in unseren Medien nicht gelacht wird. Gefühlt Tausende von männlichen und weiblichen „Comediens“, neuerdings verstärkt mit Migrationshintergrund, stehen Abend für Abend auf irgendwelchen Bühnen und erzählen lustige Geschichten, manche singen sie sogar. Ich vermute, die Joke-Hunter der Fernsehanstalten streifen Tag für Tag auf der Suche nach Nachschub durch die Fußgängerzonen und fragen die Leute, ob sie witzig und einigermaßen flüssig reden können. Als Cartoonist mit Humorhintergrund stecke ich natürlich tief im Thema. Die Printmedien z.B. haben fast alle, bis auf ganz wenige Ausnahmen, die Cartoons aus ihren Heften verbannt.

Der Humor hat keine Lobby, er kostet nur Geld und das geht der Papierpresse in der Schlacht mit den digitalen Medien immer mehr aus. Ich muss ihre Entscheidung schweren Herzens akzeptieren und war selber schon, wie andere Kollegen und Kolleginnen, massiv davon betroffen. Es tobt der nackte Überlebenskampf im Media-Markt, im Buchhandel ist es nicht anders. Amazon liefert alles nach Hause, man muss nur noch zur Wohnungstür schlurfen. Und damit komme ich zum Punkt: Aktuell läuft mein neues Buch „Umso älter man wird, desto komischer werden die anderen“ außergewöhnlich gut. Es ist aber auch ein echt witziges Werk, randvoll mit super lustigen Cartoons…ich hör ja schon auf.

Jeder Buchhändler spürt das hier und da womöglich an der auffälligen Nachfrage der Kunden, nun würde man denken, das bewegt ihn dazu, sich von diesem erfolgreichen Titel ein paar Exemplare in den Laden zu legen. Mit 10.- Euro ist das Buch keine übermäßige Investition und verderben tut es auch nicht. Aber alle Leute, denen ich mein Buch in penetranter Hartnäckigkeit ans Herz gelegt habe und die es noch in traditioneller Art und Weise in ihrem örtlichen Buchhandel kaufen wollten, hörten von ihrem Buchhändler/ ihrer Buchhändlerin den berühmten Satz: „Können wir bestellen.“ Das bedeutet also, diese Buchhandlungen ordern von einem erfolgreichen Cartoonbuch immer nur ein Exemplar nach? Wenn jemand danach fragt, kann man es ja wieder neu bestellen und man sieht den Kunden am nächsten Tag noch mal wieder? Läuft das unter Fitnessförderung oder Wiedersehensfreude? Amazon jedenfalls grinst sich einen. Andererseits wiederum stapeln viele Händler die Literatur aus dem Olymp der Spiegelbestsellerliste bei sich zu Türmen. Da brechen sich doch die Komplexe des neidischen, egozentrischen Witzzeichners mit aller Macht Bahn und er lehnt sich schluchzend an die Schulter der Buchhandlungen, von denen er weiß, dass sie in ihrem Sortiment dem Humor die gebührende Ehre erweisen.

Meine Grüße gehen an meine Freunde in die Literaturhandlung Paperback nach Bad König und an Regina bei Pustet in Passau. Und an Peter, der schon fünf Exemplare gekauft hat, vier davon will dieser humorvolle Mensch verschenken. Wahnsinn! Aber ein Teil seines Erbgutes stammt ja auch mütterlicherseits aus England.

Geselliges, deutsches Zusammensein

War super, mit unseren sechs Freunden, wir hatten uns lange nicht mehr gesehen. Einfach mal wieder bei uns sitzen, essen, trinken und plaudern. Ina erzählte, wie sie eine Woche mit Corona flach lag, Kathrin sprach dann noch von den neuen Virenbedrohungen, von Affenpocken und der bedrohlichen Wiederkehr längst vergessener Seuchen.

Philipp thematisierte die aktuelle Weltwirtschaftslage und prognostizierte globale Armut und das Aussterben der Menschheit. Lenny meinte, angesichts der exorbitant steigenden Energiepreise würden sie Brennholz horten und sich mit warmen Fellen eindecken. Nicole machte sich unglaublich Sorgen vor Wassermangel und Hungersnot, sie hätten ihre Garage schon randvoll mit Konservendosen, Klopapier und Paletten mit Mineralwasserflaschen gestopft.

Ihr Nachbar hat ein großes Schlauchboot mit Außenbordmotor in seinem Schuppen deponiert, er sei also auf die steigenden Meeresspiegel bestens vorbereitet. Kathrin sprach dann noch gleich die Verseuchung der Meere an. Lenny plauderte von ihrem Harz-Urlaub und den kahlen, toten Wäldern. Ina wollte den Atommüll nicht unerwähnt lassen und die Vergiftung der Böden sollten wir bitteschön auch nicht vergessen, vom Bienensterben ganz zu schweigen, dann referierte sie noch über die sadistische Tierhaltung und das Aussterben ganzer Tierarten.

Tom, der Handwerker, konnte natürlich ausschweifend von der katastrophalen Lage im Bausektor berichten, von Materialengpässen, Wahnsinnspreisen und dem degenerierten Nachwuchs, der ohne Smartphone keinen Nagel mehr in die Wand schlagen kann. Aber vielleicht ist sowieso, angesichts des Ukrainekrieges und der atomaren Bedrohung, alles sinnlos, meinte er. Alle nickten. Philipp warf noch den Islam und die künftigen Glaubenskriege in den Ring, sprach von der Rache versklavter und ausgebeuteter Völker und Lenny mahnte mit erhobenen Zeigefinger: „Und die AfD nicht vergessen!“ Tom rief kurz „Diesel!“ und Kathrin „China!“.

Anschließend versammelten wir uns vor dem Fernseher und sahen noch im WDR bis 0.20 Uhr die Dokumentation: „Die größten Naturkatastrophen im Westen“. Beim Hinausgehen verteilte ich an die Gäste Antidepressiva und alle gingen vergnügt nach Hause. Das war mal wieder ein schöner Abend.

Straßenkampf

Ich fahre mal wieder Fahrrad in Berlin, auf einem Radweg kommen mir drei junge Kerle, nebeneinander in breiter Front, entgegen. Es wird sehr schwer für mich ihnen auszuweichen, Raum dafür ist jedenfalls keiner mehr da. Ein angeborenes Gefühl für Gerechtigkeit sagt mir, dass ihr Verhalten asozial ist. Ich quetsche mich mit meinem Fahrrad an die äußerste Kante des Fahrradweges, nur noch ein Blatt Papier passt zwischen mir und den Fußgängern. Die drei rauschen plaudernd an mir vorbei, einer touchiert mich noch leicht mit dem Ellenbogen. Ich bleibe stehen und rufe ihnen „Hey, hört mal, der Fahrradweg gehört allen!“ hinterher. Sie bleiben stehen und drehen sich um. „Halt doch deine Fresse!“, meint der in der Mitte. Der, der mich touchiert hat, ruft: „Fick dich!“ Der letzte bietet mir an: „Kannst was vor´s Maul haben, Opa!“ Was zu viel ist, ist zu viel. Ich brülle: „Opa? Ich bin kein Opa, ihr Spacken!! Meine Söhne denken gar nicht daran, mich zum Opa zu machen.“ Die drei stoppen, steigen ab und trösten mich. Sie hätten das nicht so gemeint, sagen sie, ich möge ihnen verzeihen. Einer nimmt mich in den Arm, der andere streichelt mir über den Kopf. „Okay, okay“, sage ich und wisch mir eine Träne aus dem Auge, „alles ist gut.“ Sie sind total erleichtert und steigen wieder auf ihre Räder. „Gute Fahrt“, rufe ich ihnen hinterher, „und fickt euch!“ Sie winken noch mal fröhlich.

Breit ist geil

Ich habe den Eindruck, die Straßen in meinem Dorf werden immer schmaler. Anfangs dachte ich, das wären die Folgen des vielen Regens und erkundigte mich bei der hiesigen Straßenmeisterei, ob es möglich sei, dass nasser Asphalt schrumpft. Man ließ mich mit meiner Frage verdächtig lange in der Leitung schmoren. Endlich wurde ich verbunden und sollte die Frage noch mal wiederholen. Anschließend fragte mich der Fachmann misstrauisch, ob ich von irgendeiner Witzsendung aus dem Fernsehen käme? Ich sei doch nicht Wigald Boning oder so? „Nein, bin ich nicht.“ Er meinte, so eine saublöde Frage hätte er noch nie gehört und legte auf. Ich rief anschließend den Bürgermeister an, um ihn zu fragen, ob in letzter Zeit heimlich irgendwelche Straßenverkleinerungsmaßnahmen gelaufen seien, denn es passiere mir immer häufiger, dass ich im Dorf bei der Begegnung mit entgegenkommenden Fahrzeugen ins Bankett fahren muss, weil wir uns sonst die Spiegel abrasieren. Nein, er hätte nichts veranlasst, antwortete er, „aber vielleicht werden die Autos immer breiter?“ Verrückt, dass ich darauf nicht selber gekommen bin.

Im gebührenden Rahmen

Großes Wiedersehen, große Freude. Ich habe die beiden über fünfzehn Jahre nicht mehr gesehen. Wir sitzen und quatschen, essen und trinken, genießen die alten Erinnerungen und wollen gemeinsam wieder neue aufbauen. Dann gehen sie durch mein Haus und erfreuen sich an vielen meiner Cartoons, die ich an meinen Wänden habe. Beim Abschied gestehen sie mir, dass sie zwei Motive total super fänden und fragen zaghaft, ob sie davon nicht einen Abzug haben könnten. Für ihre Wohnung, aber nicht zu allzu groß, am besten im Format A3. „Aber gerne“, sage ich geschmeichelt und verspreche, dass ich ihren Wunsch nicht vergesse und ihnen die beiden Bilder spätestens nächste Woche zusenden werde. Schon am nächsten Tag nehme ich mir die Cartoons vor und perfektioniere sie noch ein wenig.

Dann fahre ich zu meinem Drucker in Nachbarort, um mit ihm nach längerer Diskussion ein hochwertiges Papier auszuwählen. Ich entscheide mich für ein schneeweißes, schweres Kunststoffmaterial, das garantiert, dass sich das Bild, selbst an feuchten Wänden, nicht verwirft. Das Material ist nicht billig, mir aber egal, für gute Freunde und einem Ehrenplatz in ihrer kultivierten Wohnung gebe ich gerne was aus. Wenige Tage später hole ich mir die beiden edlen Drucke ab, fahre sie behutsam nach Hause, verpacke sie stabil und bringe sie zur Post. Zwei Tage später bekomme ich über WhatsApp eine Nachricht meiner überglücklichen Freunde. Ja, ihre zwei Wunschcartoons seien unbeschädigt bei ihnen angekommen und würden jetzt unverzüglich fein gerahmt. Ich bin erleichtert, dass alles so gut geklappt hat und genieße meine gute Tat. Im Geiste sehe ich vor mir, wie sich in einer Krefelder Wohnung Besucher und Gäste fröhlich glucksend in unverhohlener Wertschätzung an meinen Zeichnungen ergötzen. Mit wird ganz warm ums Herz. Schon am nächsten Tag macht es „Ping!“ auf meinem Handy. Ich registriere aus dem Augenwinkel eine Nachricht aus Krefeld mit Fotos. Ach, wie schön. Ich setze mir ganz aufgeregt meine Brille auf, um das, was ich da sehe, so scharf wie möglich zu genießen: Meine beiden gerahmten Cartoons hängen an einer weißen Wand – in einer Toilette, gleich neben der Kloschüssel.

Onkel Doktor

Du sitzt schlaff vor ihm auf dem Stuhl und er starrt aufrecht auf seinen Computer. Du bist unruhig, schwitzt, knetest dir die Finger, versuchst in seinen Augen zu lesen, was er gleich zu dir sagen wird. Ist es erlösend oder bedrohlich? Geht es für dich weiter oder dem Ende zu? Die Spannung ist fast unerträglich, du hast nackte Angst. Warum spricht er nicht? Warum zuckt er mit der linken Augenbraue? Warum kratzt er sich plötzlich das Kinn? Ein Signal? Weiß er nicht, wie er es dir sagen soll? Fehlen ihm die Worte? Schiebt er dir jetzt diskret die Visitenkarte vom Bestattungsinstitut rüber? Oh, Gott, steh mir bei, vielleicht trete ich auch wieder in die Kirche ein, nur, bitte verschone mich. Da, er räuspert sich und sagt: „Sieht ja alles ganz gut aus, nur der Cholesterinspiegel ist bisschen zu hoch.“ Rumms! Ein Felsen poltert zu Boden. Noch mal gut gegangen – bis zu nächsten Vorsorgeuntersuchung.

Nirgendwo ist der Mensch so kleinlaut und ergeben, wie beim Arzt oder bei einer Ärztin. Die mögen von Geburt an reichlich oder weniger charakterliche Defizite haben, aber wer in der Schule schön fleißig war und aus der Klassenarbeit keine Papierflieger bastelte, der konnte Onkel oder Tante Doktor werden und anderen eines Tages sagen, was bei ihnen undicht oder defekt ist. Das kann der Installateur auch, allerdings genießt er nicht annähernd diese gesellschaftliche Wertschätzung wie eine Ärztin oder ein Arzt. Ein sauberes Abflussrohr ist halt keine Arterie.

Kein anderer rückt dir so auf die Pelle wie diese Mediziner, keiner kann dich so intim fragen oder in dich eindringen und deine Lebensweise beeinflussen wie sie. Mein Augenarzt hat mir mal nach einem Unfall die Diagnose erläutert, ich lauschte glasig seinen fachworttriefenden Worten und das lag nicht nur an den Tropfen, die er mir vorher verabreicht hatte. Als mich meine Familie fragte, was ich denn nun hätte, konnte ich nur „Keine Ahnung, irgendwas mit Auge“ sagen.

Ich war den Ärzten immer völlig ausgeliefert und ergeben, so, wie ich den Kniefall vor den „Göttern in Weiß“ von meinen beiden kreuzbraven Eltern geerbt habe. Das hat sich mit meiner Lebenserfahrung und einem inflationären Niveauabfall bei den Abiturienten jedoch geändert. Als letztens ein Freund stolz „Unser Valentin will Arzt werden“ zu mir sagte, konnte ich nur fragen: „Ach? Zum Zimmermann hat´s wohl nicht gereicht?“

Donnerwetter

Unvorstellbar, es gab mal Zeiten, da schaute man aus dem Fenster, checkte kurz die akute Wetterlage und verließ unbekümmert seine Wohnung. Regnete es, griff man sich einen Schirm oder eine Jacke mit Kapuze, regnete es nicht, ließ man das Wetter einfach auf sich zukommen.

Wetter, das war die launische Unbekannte, auf die man sowieso keinen Einfluss hatte, und über Dinge, die man nicht beeinflussen kann, muss man sich keine Gedanken machen. Punkt! Das lernte jeder Student im 1. Semester Psychologie. Manche hielten sich einen grünen Frosch im Glas, in dem sich eine kleine Leiter befand. Hüpfte der Frosch daran hoch, gab´s gutes Wetter, hockte er unten, blieb das Wetter schlecht. Eine solch tierquälerische Art der Wetterlagenermittlung mittels einer eingesperrten Amphibie, würde aktuell sofort den Einsatz eines Sonderkommandos von PETA zur Folge haben.

Zwar gibt es bis heute noch den Wetteronkel oder die Wettertante im Fernsehen, die uns pünktlich nach den Nachrichten wie ein Erdkundelehrer, anhand von bekritzelten Landkarten von freundlichen Hochs und grimmigen Tiefs künden, längst aber verfügt doch jeder über eine Wetter-App auf seinem Handy, ohne deren Information er niemals das Haus verlassen würde. Die ganz Cleveren haben sich „Regenradar“ runtergeladen und wissen genau, dass sie exakt zwischen einem klar erkennbaren Wolkenband im Zeitfenster zwischen 14:33 Uhr und 15:09 Uhr trocken zum Supermarkt hin – und zurückkommen. Gestern trat ich mit meinem Sohn aus dem Haus. „Es gibt gleich Regen“, sagte ich. „Bist sicher?“, fragte er. „Hab auf den Himmel geschaut.“ Seine Augen leuchteten. „Cool, die App will ich auch.“