Handy-Mandy

Ich laufe den Berg hoch. Oben angekommen verschnaufe ich auf einer Bank. Weiter vorne ist ein Aussichtspunkt, von einem Geländer aus hat man einen grandiosen Blick auf die kleine Stadt. Dort steht, mit dem Rücken zum Tal, ein junges Pärchen und eine Freundin, die sie mit ihrem Handy fotografiert. Sie wirkt ehrgeizig, bewegt sich mal leicht nach rechts, mal nach links, immer auf der Suche nach dem idealen Winkel. Ich schaue mir das vergnügt an, frage mich aber, ob ihr klar ist, dass das mit der hellen Mittagssonne im Rücken der beiden nichts werden kann? Sie fotografiert und fotografiert. Immer wieder schaut sie sich das Ergebnis auf dem Handy an und grübelt. Zufriedenheit sieht anders aus. Würde das Paar drei Schritte nach rechts treten und sich leicht drehen, stünden sie im Licht. Darauf kommt die Fotografin aber nicht. Sie denkt wohl, ihr Handy regelt das von selbst, die Wunderteile können ja zaubern. Beseitigen Falten, überflüssigen Speck, justieren schiefe Gesichter, bleachen Zähne, füllen Haare, da werden sie doch wohl noch aus schwarzen Gesichtern helle machen, oder was? Ich kann es nicht mehr mit ansehen und rufe: „Hey, Handy-Mandy! So wird das doch nix! Viel zu dunkel!“ Die Fotografin ist irritiert und wenig zugänglich, knurrt etwas von „Versuch“ und „meine Sache“, schießt noch mal ein Foto, dann verschwinden sie. Am nächsten Tag titelt die Passauer Neue Presse groß mit: „Alter weißer Mann belästigt junge Menschen!“

Fliegende Pfeile

Sportler/innen sind in der Regel durchtrainierte Athleten, muskulös und sehnig, kein Gramm Fett zu viel, Figuren wie aus Marmor geschlagen. Nur so sind sie in der Lage, ihre Leistungen abzurufen, Weltrekorde zu laufen, zu springen, zu fahren, zu fliegen, Tore zu schießen oder zu werfen. Aber es gibt eine Sportart, geboren im Mix von Tabakqualm und Bierschaum der englischen Pubs, in der es von hässlichen, fetten Männern nur so wimmelt. Große oder kleine Kerle mit Bierbäuchen, Doppelkinn oder Brille, mit Irokesenschnitt und Tattoos: Darts! Solche herrliche Typen stehen dann bei ihren Wettbewerben auf einer Bühne und werfen mit koketter Fingerhaltung und unfassbarer Präzision hochkonzentriert drei kleine Pfeile auf eine Scheibe – und das, obwohl in ihrem Rücken eine selig besoffene Masse von lustig kostümierten Zuschauern permanent lärmt und bei jedem gelungenen Wurf tobt und gröhlt. Ruft der glatzköpfige Sprecher, der direkt neben der Scheibe steht und blitzschnell die drei Würfe addiert, mit seiner vom Alkohol geschmirgelten Stimme die drei Supertreffer „One hundred and eiiiiiiiiiighty!“ in sein Mikrofon, dann rollt ein Orkan der Begeisterung durch die Menge. Letztes Wochenende war das Finale der Weltmeisterschaft, Preisgeld für den Gewinner: 500.000 Pfund! Erkämpft hat sie sich der Waliser Gerwyn Price, Ex-Rugbyspieler und Türsteher. Ich liebe Darts.

Teeträume

Die Masse von Produkten im Supermarkt macht mich immer ganz wirr. Ein Meer von bunten Tüten, Bechern, Schachteln, Dosen und Büchsen, meine Augen wissen gar nicht wo sie zuerst hinschauen sollen – und ich werde nervös. Das ist ganz schlimm, denn Nervosität geht bei mir mit Ungeduld einher, die wiederum macht mich reizbar – dann würde ich mir am liebsten selber aus dem Wege gehen. Heute stehe ich also in diesem Zustand bei EDEKA vor einer zwanzig Meter breiten Wand von Teesorten. Früher gab es drei Sorten Tee: Assam, Darjeeling, Kamille, heute gibt es gefühlte Tausend! Und wo bitteschön finde ich da nun in diesen „Denk-an-dich-Tee“, den mir Ina so empfohlen hatte? Nach fünf Minuten Suche brennen mir die Augen. Ich irre durch das Lebensmittel-Labyrinth und finde eine Verkäuferin. Sie führt mich freundlich zurück in die Teestraße und empfiehlt mir sanftmütig den „Komm-wieder-runter-Tee“. Der sei auch ihr Lieblingstee, meint sie. „Und wie finden Sie den?“, frage ich sie augenzwinkernd und tippe verwegen auf einen „Lustvoller-Abend-Tee“. Sie zeigt nur vergnügt auf einen „Machs-dir-selber-Tee“ und verschwindet. Ich muss lachen und gehe zur Kasse, dort lege ich als letztes Produkt den „Zahle-mit-Karte-Tee“ auf das Laufband und fühle mich deutlich besser.

Danke, Corona

Man mag über Corona noch so schlecht reden oder denken wie man will, aber Clara hat sich plötzlich in eine Katze verliebt, Lukas die Freude am Kochen entdeckt, Katharina malt abstrakte Acrylbilder, Felix ist ein begeisterter Schachspieler geworden, Mario hat seine alte Modelleisenbahn wieder in Betrieb genommen, Jens und Pia haben sich einen Schrebergarten gemietet und Eddy und Uli ein Baby gezeugt. Dass Kevin plötzlich mit dem Stricken angefangen hat und Tanja jetzt in einer Latino-Combo trommelt, hat alle schwer beeindruckt. Ich habe endlich begonnen meine Augen für all die Dinge zu öffnen, die mir unangenehm sind, die ich ständig verdränge oder aufschiebe, Plagen wie Verträge, Policen, Kosten, Rechnungen, Vermächtnisse, Versprechungen, Zusagen, Absagen – und habe gestaunt, was ich alles im Leben mal unterschrieben habe. Ich las alte Liebesbriefe und spürte Schamesröte darüber, was ich einst fühlte und schwor.

Ich habe meinen Kleiderschrank inspiziert und Berge von Klamotten entsorgt, die mir schon seit Jahren nicht mehr passen. Ich habe alte Bierkrüge, Pötte und beispiellosen Kitsch aus meinen Schränken und Regalen entfernt, der nur noch als Staubfänger fungierte und ihn in den Müll geworfen. Ich habe alte Fotos, Dias, Negative, Videos, Langspielplatten, CD´s und Musikkassetten gesichtet und bin dabei auf herrliche Gefühle aus tiefster Vergangenheit gestoßen. Bei der nächsten Epidemie will ich endlich Klavierspielen lernen.

Bob Ross

Er war ein schlanker, mittelgroßer Typ, trug einen Bart und eine Frisur wie Jimi Hendrix und stand immer vor einer Staffelei mit einer weißen Leinwand. Sein Name war Bob Ross. Er starb 1995. Man kann seine Filmchen heute noch im Netz bewundern. Da er Englisch sprach, verstanden ihn eher nur die angelsächsischen Zuschauer, was aber auch völlig egal war, denn der Klang seiner warmen, ruhigen Stimme stimmte jeden, egal welchen Geschlechtes und welcher Nationalität, darauf ein, die Angst vor einer weißen Leinwand für immer abzustreifen.

Dafür brauchte es nur eine Palette, Farben, Pinsel, Spachtel – und ein „Here we go!“ Bob, ein Großmeister der Landschaftsmalerei, begann sein Werk, getreu der malerischen Grundregel von Vordergrund und Hintergrund, zuerst von oben – und zwar mit dem Himmel. Dafür benutzte er einen Breitpinsel, solchen, wie ihn die Maler zum Streichen von Haustüren benutzen, erklärte fröhlich „Now a little bit blue for the sky“, und klatschte querrüber ein Blau auf die erschrockene Leinwand, die eher ein verzagtes Herangehen gewohnt war und mit so einem massiven Angriff nicht gerechnet hatte. Sodann drückte er einen Strang Weiß aus der Tube auf die Palette, schmierte sich davon etwas auf einen Spachtel und begann damit wunderschöne Wolken anzusetzen. Alles sah so spielerisch leicht aus, dass man sich fragte, warum man nicht längst selber auf die Idee gekommen war, in dieser lockeren Technik regelmäßig zur Entspannung Wolkenhimmel zu malen?

Mit dem angefeuchteten Breitpinsel fuhr er dann quer über seine gemalten Flächen und verlieh ihnen dadurch mehr und mehr wolkige Leichtigkeit. Unglaublich. Danach watschte er zackig den Pinsel – rechts – links – rechts – links – rechts – links – an der unteren Verstrebung seiner Staffelei ab, um ihm damit das Wasser aus den Haaren zu klopfen. Die Kameraeinstellung zeigte Bob in seinem blütenweißen, makellosen Hemd nur bis zum Gürtel, man konnte also nur vermuten, wie vollgesaut seine Hose und der Boden war.

„Here we go“ – schon entstanden aus anfänglich plumpen Zacken und Kanten, die er vorher hemmungslos mitten in den zarten, verletzlichen Himmel geschmiert hatte, plötzlich grandiose Bergmassive. Wahnsinn! Und wieder trug er auf diese Idylle mit dem Spachtel quer einen dreisten, fetten Streifen Dunkelblau auf. Wäre da nicht diese wohlige Stimme, die einem tiefstes Vertrauen in seine Malkunst vermittelte, man hätte sich sie Haare gerauft und gedacht: Oh my god, was tust du da, Unseliger? Aber der hässliche Balken entwickelte sich rasch zu einem kristallklaren Bergsee. Bob wusste genau was er tat, aber er war noch nicht fertig. Nun tupfte er virtuos mit einem Fächerpinsel („Totally crazy“) endemische Baumarten um das Seeufer, die er sich anschließend naturgetreu auf der Seeoberfläche spiegeln ließ. Genial! Ein paar Felsen obendrein, etwas Wiesen – und fertig war das amerikanische Nationalparkpanorama.

Figürliches, also schnüffelnde Grizzlys, malmende Elche oder jagende Ureinwohner, sah man auf Bobs Bildern eher nicht. Wie kitschig man seine Bilder auch finden mag, handwerklich sind sie grundsolide, eine Motivation für Millionen Menschen, Bilder zu malen – und ein glänzender Umsatz für die Malartikelhersteller. Letzte Woche erhielt ich eine Einladung meiner Nachbarin zu ihrer Vernissage „Blumen am Zierteich“. Immerhin.

Platz da!

Sie kommen! Von Kopf bis Fuß durchgestylte Menschen auf teuren E-Mountain-Bikes-Boliden, die SUV´s der Fahrräder. Schon aus der Ferne hörst du den Grip ihrer fetten Reifen dröhnen und ihre Akkus surren. Sollte man dann noch nicht zur Seite gesprungen sein, klingeln sie dich weg und stampfen, den Kopf unter Star-Wars-Helmen, den Batman-Blick hinter verspiegelten Sonnenbrillen verborgen, demonstrativ hautnah an dir vorbei. Auf ihrem Cockpit auf der Lenkradmitte leuchtet der Bordcomputer, in der Spezialhaltung ruht das Handy mit den Streckeninformationen und aus den Kopfhörern hämmert ihnen Rammstein in die Ohren. Sie hacken verbissen einem Ziel entgegen, getrieben vom Ehrgeiz, so schnell und kalorienverbrauchend wie möglich zu fahren. Oft kommen sie wie in einer wilden Herde daher und zwingen dich angsterfüllt auf den Wegesrand. Zurück bleiben aufgescheuchte Kleintiere und hochgewirbelte Blätter. Du schaust ihnen verstört hinterher und fragst dich, mein Gott, was ist nur aus dem betulich, fröhlichen „Jaaa, wird sind mi´m Radel da…“ geworden? Ein Theater der Angeber, so wie auf den Straßen.

Brot und Quizshow

Was ist die Volksdroge Nummer Eins? Zucker? Falsch. Alkohol? Falsch. Sex? Ganz falsch. Die Antwort ist: Unterhaltung. Schon die alten Römer kannten das Volksablenkungskonzept „Brot und Spiele“. Gebt ihnen ein leckeres Ciabatte und einen Platz im Kolosseum, schon sind sie glücklich und regen sich nur noch auf, wenn es nicht spannend genug ist. 1900 Jahre später haben wir dafür Fußballstadien, aber der größte Spielplatz ist das Fernsehen. Dort werden ständig „Superstars“, „Supermodels“, „Superdancer“, „Superköche“ oder „Supersportler“ gekürt, fressen angeschimmelte Promis im Dschungelcamp Raupen, baggern in Kuppelshows Bachelors unverhohlen um willige Weibchen oder Bacheloretten um scharfe Männchen, suchen einsame Bauern ein Schweinchen und Bäuerinnen die richtige Sau. Die Kamera begleitet alle, Auswanderer und Einwanderer, auch Gerichtsvollzieher und Kammerjäger, Zivilstreifen und Rollkommandos, Goldsucher und Erbschleicher, Häuslebauer und Nestbeschmutzer, Zuhälter und Geheimdienstler, chronisch Verstopfte und latent Inkontinierte, Schwanzvergrößerer und Magenverkleinerer, filmt Operationen, Geburten, Unfälle, Tote, Halbtote, Taubenzüchter, Hundetrainer, Bodytrainer, kraucht in die dunkelsten Nischen unserer Gesellschaft, filmt Alkoholiker, Adipöse, Magersüchtige, Depressive, Drogenabhängige, Harzvierer, Minijobber, Schwarzarbeiter, Heimbewohner, all die Außenseiter, Verlierer, Verlorenen und Abgeschobenen unserer Gesellschaft.

Auf der Suche nach immer neuem Futter für die ablenkungshungrige Masse sind längst alle Tabus gefallen, ist jede Scham und Würde verloren gegangen, haben Voyeurismus und Häme Einzug gehalten, erschaudern die Zuschauer vor dem Blick in die Leprakolonie und sind froh, dass sie noch alle Finger haben, mit denen sie auf sie zeigen können. Unser Fernsehen ist ein abgrundtiefer Schlund medialer Verkommenheit. Aktuell boomen Quizshows auf allen Kanälen. Alle Moderatoren/innen die leidlich vorlesen können, moderieren eine. Als Kandidaten/innen fungieren dominant das rastlos von Studio zu Studio springende Rate-Pack: Günter Jauch, Barbara Schöneberger, Thomas Gottschalk. Bereit? Dann hier die Frage: Wofür halten die deutschen Fernsehsender ihre Zuschauer? 1. Für Einzeller, 2. Für Affen, 3. Für Simpel, 4. Für evolutionären Schrott. Bis zu vier Antworten sind richtig. Nächste Woche „Sodom und Gomorrha“: das Internet.

Erfolgsschiene

DB MOBIL heißt das Magazin und liegt in jedem Zug der Deutschen Bahn kostenlos für die Fahrgäste aus. Es ist mit seinem Mix aus Schönheit, Kultur und Business eher für eine begüterte Klientel als für Sozialhilfeempfänger gedacht. Die sitzen höchstens in der 2. Klasse oder hocken im Gang. Das DB MOBIL spricht Menschen an, die im schneidigen ICE 4 mit Tempo 300 vor einer Pasta mit Gemüsebolognese von einem erfolgreichen Meeting zum anderen rasen und Ziel und Sieg als Mantra ihres Lebens propagieren, so wie Leon Goretzka (Fußballspieler), Mann mit „Muskeln, Statur und Mut“, der auf dem Titel „Ich will Chef sein“ sagt. Katharina Witt „kann auch loslassen, aber erst am Ziel“, Madonna hatte immer das Ziel „Ich will die Welt regieren“ und Fahri Yardim ist „ein Gewinner“. Wie bescheiden wirkt da doch der Traum eines normalen, bahngeschundenen Reisenden nach einer pünktlichen Beförderung von A nach B. Aber dazu lässt man Norbert Blüm höhnen: „Wir treffen uns in Siegen und nicht in Klagenfurt oder Jammerfels.“ Nächste Woche will ich mit der Bahn von Niebüll nach Passau. Es wäre mein dreißigster Versuch, ohne Anschlussprobleme am Ziel anzukommen. Wir treffen uns wieder in Kotzbach?

Wie schön ist der denn?

Man nennt ihn „Ruhestand“, den ersehnten Zeitpunkt, ab dem man nicht mehr um 6 Uhr morgens bei Wind und Wetter aus dem warmen Bett muss, um in vollen Verkehrsmitteln und auf ebensolchen Straßen mit müden Menschen gemeinsam zur Arbeit zu fahren. Aber, wie ich beobachtet habe, wirklich ruhen tut keiner von denen, der diesen „Ruhestand“ erreicht hat, im Gegenteil, er wendet sich jetzt nämlich intensiv einem Objekt zu, das ihm von Geburt an bekannt ist, für das er aber in Anbetracht anderer Dringlichkeiten, wie Sex, Alkohol und Schweinshaxen, viel zu wenig Zeit hatte: seinem Körper. Plötzlich entdeckt er Organe, von denen er vorher gar nicht wusste, dass er sie hat. Er identifiziert Gliedmaßen, Muskeln, Haut, Fältchen, Flecken, Schwellungen, Verfärbungen, die ihm erst mal fremd vorkommen, nun aber seine ganze Aufmerksamkeit erhalten.

Plötzlich empfindet er Schmerzen, die während seines Arbeitslebens keine Chance hatten, auf sich aufmerksam zu machen. Schon mit dem Aufwachen steuert er mit Augenmuskelübungen, Dehnungen, Streckungen und Salbungen dagegen an. Anschließend holt er Berge von Prospekten aus seinem Briefkasten, Angebote von fürsorglichen Medikamentenherstellern, die ihre aus dem Wunder der Natur gewonnenen Nahrungsergänzungsmittel preisen und ihm Erlösung, zumindest Erleichterung jedweder Leiden versprechen. Für ihn auch ein Wunder, woher die wussten was gut für ihn ist und vor allem seine Adresse hatten. Auch auf YouTube strecken und dehnen ihm jetzt körperkundige Physiotherapeuten etwas vor und lockern seine Faszien und Sehnen. Endlich gelingt ihm beim Autofahren wieder der „Radfahrerblick“ und er kann sich ohne fremde Hilfe sein Gesäß kratzen. So schön hatte er sich den Ruhestand nicht vorgestellt. Sehr schade eigentlich, dass er erst im Alter kommt.

Auf der Strecke geblieben

Wenn du das liest und dich wiedererkennst, dann melde dich mal. Will wissen, wie es dir geht und wo du die letzten Jahrzehnte geblieben bist, aber vor allem: Wo damals? Du erinnerst dich? Wolltest von West-Berlin zu mir ins Bergische Land trampen. Handys gabs noch nicht, also konnte ich deine Anreise nicht verfolgen. Jedenfalls habe ich mich auf dich gefreut wie auf Weihnachten.

Du, ein Geschenk, eine klasse Frau, jung, schön, klug. Wir kannten uns flüchtig, du warst mit einem Freund von mir zusammen, aber dann nicht mehr. Also freie Bahn für eine neue Liebe. Genau die wollte ich für dich sein. Dass du zur Grenze bist, um einen Lift nach Westdeutschland zu bekommen, das hattest du mir noch am Morgen am Telefon erzählt. Danach habe ich alle Zimmer gesaugt, Staub gewischt, den Boden gewienert, das Bett frisch bezogen, Wein, Bier, Kerzen, Blumen und Leckereien gekauft, Essen vorbereitet, mich geduscht, rasiert, geföhnt und mir komplett saubere Klamotten angezogen. Sogar den Hund und die Katze habe ich gebürstet und gepudert.

Danach saßen wir alle drei auf dem Sofa und haben gewartet. In meiner Phantasie sah ich dich zügig vorankommen, ein so hübsches Mädchen steht nicht lange. Ab 17 Uhr lief meine Phantasie Amok. Gegen 19 Uhr fing ich an Fingernägel zu knabbern. Gegen 21 Uhr lief ich wie ein Raubtier im Käfig hin und her und wollte die Polizei anrufen. Gegen 23 Uhr war ich halb besoffen vor Sorge – aber auch vom vielen Kummerbier. Um Mitternacht bin ich mit Kater und Hund ins Bett. Die waren überglücklich, das durften sie nämlich sonst nie. Das Telefon auf meinem Nachtisch schwieg die ganze Nacht, auch am nächsten Morgen und auch am nächsten Tag – und alle weiteren.

Nur meine Mutter rief mal an. Ich hab dich nie wieder gesprochen. Jahre später erfuhr ich, dass du auf der Strecke zu einem Typen in eine Ente gestiegen bist und mit ihm direkt weiter nach Paris. Es muss voll gefunkt haben. Gegen Paris war ich natürlich chancenlos. Erzähl mir, bitte? War er die große Liebe? Hast du ihn geheiratet? Mit ihm in Paris eine 2CV-Werkstatt, ein Café, einen Salon eröffnet? Hattest mit ihm Kinder? Bist reich und glücklich geworden? Oder arm und verbittert? Hat er dich geliebt oder geschlagen? Dich gar ermordet? Dann bist du entschuldigt.